Berlin: „Turandot“

Zweite Aufführung

Metamorphose einer Marionette

Die letzte Produktion von Puccinis Turandot an der Staatsoper, in der Doris Dörrie allzu profane Lösungen angeboten hatte, ist noch in unguter Erinnerung. Nun folgte Philipp Stölzl mit einer Neuinszenierung, deren zweite Vorstellung am 22. 6. 2022 vom Publikum begeistert aufgenommen wurde. Die Aufführung hat musikalisch großes Format, wird geleitet von Zubin Mehta, der eine ganz besondere Affinität zu Puccinis letzter Oper hat und auch an diesem Abend mit der Staatskapelle Berlin eine faszinierende Lesart von packender Dramatik bot. Bis zum Schluss gab es kein Nachlassen an Spannung und Intensität. Der Staatsopernchor und der Kinderchor des Hauses (Einstudierung: Martin Wright) waren personalmäßig durch Covid-Erkrankungen reduziert, ließen aber hinsichtlich Volumen und Klangpracht keine Wünsche offen.

Die ursprünglich in der Titelrolle besetzte Anna Netrebko wurde nach deren Absage durch Elena Pankratova mehr als kompetent ersetzt. Die russische Sopranistin ließ eine machtvolle Stimme von sieghafter Durchschlagskraft hören, die schon im Auftritt („In questa reggia“) alle geforderten Spitzentöne mühelos absolvierte. „Straniero, ascolta“ besaß eine geradezu mirakulöse Wucht und auch die beiden hohen Cs am Ende des Aktes übertrafen souverän den gewaltigen Chorklang. Im Schlussduett konnte Pankratova noch einmal alle Kräfte mobilisieren und damit ihre grandiose Leistung krönen. Keinen so einheitlich positiven Eindruck hinterließ Yusif Eyvazov als Calaf, denn sein Gesang konnte sich zwar zumeist gegen die Wucht des Orchesters und das Potential der Sopranistin behaupten, war aber geprägt von einem Dauerforte, worunter auch die populäre Arie „Nessun dorma“ litt. Wenig Effekt hatten seine drei „Turandot!“-Rufe am Ende des ersten Aktes, was möglicherweise an seiner gewagten Position lag, wurde er doch an Seilen in die Höhe gezogen. Erfreulich war das Wiedersehen und –hören hören mit Aida Garifullina, die in ihrer Erscheinung als blonde Märchenfee der Liù anrührende Züge verlieh und deren Arien mit leuchtender Stimme und innigem Ausdruck zu vokalen Höhepunkten der Aufführung führte. René Pape sang den Timur solide, für die Totenklage hätte man sich freilich noch mehr grandeur gewünscht. Die Stimmen von Bernhard Hansky, Andrés Moreno García und Siyabonga Maqungo vereinten sich ausgeglichen in den Gesängen von Ping, Pang und Pong. Die Besetzung komplettierte David Ostrek als Mandarin mit prägnantem Bassbariton.

Optischer Mittelpunkt der Szene (ebenfalls von Philipp Stölzl) ist eine monströse Marionette als Double der Titelheldin, die von Puppenspielern an Fäden bewegt und gedreht wird. Sie trägt einen riesigen dunklen Reifrock, als Gesicht eine weiße Maske und lange schwarze Haare. Fast pausenlos wird die Marionette aus einer kreisförmigen Vertiefung, einer Art Zisterne, die später mit Totenschädeln gefüllt ist, hochgezogen und wieder herunter gelassen, mitunter fällt sie ganz in sich zusammen. Auf Dauer wirkt der Einfall strapaziert, auch störend, wenn während populärer Nummern zu viele Aktionen stattfinden und vom Gesang ablenken. Für den Auftritt des Kaisers (Siegfried Jerusalem in Hitler-naher Optik mit gebührend brüchigem Tenor) öffnet sich der Reifrock wie ein Theatervorhang, beim Erscheinen Turandots hebt er sich ganz. Wie eine Miniatur der Marionette wirkt die Prinzessin in der dunklen Krinoline (Kostüme: Ursula Kudrna) und ihrem maskenhaften Gesicht. Bei jedem von Calaf gelösten Rätsel verändert sich die Marionette, wird entkleidet, verliert nach und nach ihre Glieder und sogar den Unterleib, der geräuschvoll zu Boden fällt. Im 3. Akt ist die Marionette gänzlich demontiert und zu einem surrealen Wesen mit sechs Armen und einem Totenkopf deformiert, das einer Spinne gleicht. Die rätselhafte, in der Luft hängende riesige Glühbirne, die im 1. Akt den Gong ersetzte, weil Calaf sie dreimal berühren musste und sie dann aufleuchtete, bildet nun den Leib des Tieres. Assoziiert man dieses als gefährlich oder gar tödlich, stellt sich der Bezug zu Turandot nicht her, denn sie nimmt in dem Moment, wo das Orchester Calafs Kuss anzeigt, Gift als Konsequenz ihrer Bluttaten und sinkt in seinen Armen leblos zu Boden. Hier befolgt der Regisseur nicht die Vorgabe des Librettos von Giuseppe Adami und Renato Simoni, doch ist diese finale Lösung auch nicht neu. Man hat die Oper in letzter Zeit noch viel entstellter erleben müssen, so dass man Stölzls Entscheidung durchaus goutieren kann – auch wenn sie dem finalen Jubel des Volkes widerspricht. Dieses wird als uniform gekleidete, von einer Diktatur geknechtete Masse gezeigt. Wie einstudiert wirken die Gesten und Haltungen der Menschen, die von Soldaten in roten Lederanzügen immer wieder massakriert und ermordet werden. In der kreisrunden Vertiefung werden die Körper der Toten entsorgt. Nicht ideal ist das Lichtdesign von Irene Selka und dem Regisseur, das viele Szenen in ein diffuses Halbdunkel taucht.

Bernd Hoppe 20.4.22