Kassel: „Artaserse“, Leonardo Vinci

Premiere: 12. Dezember 2015

Nachdem Leonardo Vincis „Artaserse“ im Jahr 2012 durch die konzertante Aufführung mit fünf Countertenören der Vergessenheit entrissen wurde, wagt sich das Staatstheater Kassel jetzt als erstes deutsches Theater an die Barockrarität. Seit 1746 ist dieses Stück nicht mehr in Deutschland gespielt worden, weshalb man gespannt ist, wie sich diese Oper auf der Bühne entfaltet?

Bei der Lektüre des Programmheftes ist man zunächst verwirrt: Was da als Handlung erzählt wird, scheint ein wirres Intrigenspiel. Zudem ist bedauerlich, dass sich im Programmheft nur bruchstückhafte Informationen über den Komponisten und nichts über die Geschichte dieses Werkes und seine Wiederentdeckung zu lesen ist. Auch hätte man gern etwas von Regisseurin Sonja Trebes über ihren Zugang zum Werk und ihr Konzept gelesen.

In der Aufführung, die fast drei Stunden dauert, ist man dann aber erleichtert: Trebes bringt die Geschichte verständlich und nachvollziehbar auf die Bühne. Die deutschen Übertitel erleichtern zusätzlich das Verstehen. Der persische Großkönig Xerxes wird ermordet und daraus entspinnt sich einerseits die Suche nach dem Täter, zum anderen setzt sich sein Bruder Artaxerxes als sein Nachfolger durch.

Waren bei der konzertante Aufführung und der Inszenierung von Silviu Purcarete sogar zwei Frauenrollen mit Countertenören besetzt worden, so gibt es in Kassel mit Yuriy Mynenko nur noch einen Counter. Die anderen Partien sind mit Frauen besetzt. Sonja Trebes spielt zwar mit den Geschlechteridentitäten, wenn die Sängerinnen von General Megabise und Prinz Arbace Spitzenunterwäsche tragen. Aber die wichtige Frage, wer Mann oder Frau ist, wird nicht eindeutig beantworten. Dabei hätte man aus diesem Komplex eine Menge szenisches Kapital schlagen können.

Gegen Ende der Aufführung erlaubt sich Trebes auch eine eigene Deutung, wenn sie das Happy End verweigert. Im Original wird Arbace nicht hingerichtet, hier wird er/sie von Artaxerexes im Kerker erstochen. Das hat zur Folge, dass Arbace zum Duett mit Mandane, der Schwester der Titelfigur, als Geist erscheint. Im Original verhindert Bösewicht Artabano im letzten Augenblick noch die Vergiftung des Königs, in Kassel findet sie statt, so dass das Happy End nur noch eine Phantasie des sterbenden Königs ist.

Bühnenbildner Dirk Becker, der durch die Ausstattung des Weimarer „Ring“ und einige Arbeiten für Christof Loy bekannt geworden ist, beeindruckt vor allem mit dem großen „X“, das wie ein Symbol aus dem Actionfilm „Triple X“ an der Palastmauer prangt. Das sieht zwar schick aus, hat aber ansonsten keine Bedeutung. Immerhin lässt Beckers Bühne den Darstellern genügend Platz.

Schwächelt die Regie, so ist Kassel aber eine musikalische starke Produktion zu erleben: Das ist zum einen dem Komponisten Leonardo Vinci selbst zu verdanken, dessen Musik sich auf einem ähnlich hohen Niveau wie die Werke Händels befindet. Die Arien sind nicht bloße Koloratur-Massenware, die dem Zuschauer in andren barocken Opern begegnet. Da Vinci fühlt sich wirklich in die Figuren ein und zeichnet sie sensibel und abwechslungseich. Dirigent Jörg Halubek dirigiert das Stück mit einem Schwung und einer Energie, dass man echt begeistert ist: Diese Musik ist plastisch, expressiv und reißt mit. Die Streicher des Staatsorchesters Kassel pflegt einen rauen Bogenstrich und werden noch mit Theorben und Cembali verstärkt, die oft sehr perkussiv gespielt werden.

Hörenswert ist das Kasseler Ensemble: Yuriy Mynenko gefällt in der Titelrolle mit seinem wendigen und klangvollen Countertenor. Den meisten Beifall gibt es für die Sopranistin Lin Lin Fan als Arbace. Die Sopranistin begeistert mit einer differenzierten Rollengestaltung. Zudem interpretiert sie die Koloraturarien furios und hat mit „Vo solcando“ den großen Hit des Abends.

Sopranistin Anni Yorentz singt die Semira mit kräftiger und schön gefärbter Stimme. Die Regie macht aus dem General Megabise eine Art Lesbendomina, die von Sopranistin Inna Kalina mit geläufiger Gurgel gesungen wird. Die Mandane gestaltet Maren Engelhardt mit hellem und dramatischem Mezzo. Den Intriganten Artabano singt Bassem Alkhouri mit zuverlässigem Tenor.

Die Oper würde man gerne einmal in einem großen Haus unter einem Barockspezialisten wie Rene Jacobs und von einem Regisseur wie David Alden oder Robert Carsen inszeniert sehen.

Rudolf Hermes 16.12.15

Bilder Staatstheater Kassel