Mainz: „Medea“

Premiere: 13.06.2015, Wiederaufnahme am 19.02.2016

Packendes Regietheater

Lieber Opernfreund-Freund,

die Geschichte um Medea, die Jason zum goldenen Vliess verhilft, mit ihm aus ihrer Heimat flieht, zur Brudermörderin wird und – als Jason sich der Tochter von König Kreon von Korinth zuwendet – aus Rache die gemeinsamen Kinder tötet, hat über die Jahrtausende immer wieder Künstler aller Sparten zu außergewöhnlichen Werken inspiriert. Es gibt zahlreiche Gemälde u.a. von Rubens, Delacroix und Cezanné, die Szenen aus der Medea-Geschichte zeigen. In der Literatur haben sich angefangen von Euripides, Seneca und Ovid über Pierre Corneille bis hin zu Grillparzer, Brecht, Christa Wolf und Heiner Müller unzählige Autoren mit dem Thema befasst. Es exisitieren Dutzende Opern u.a. von Johann Simon Mayr, Pacini, Mercadante, Charpentier und Rolf Liebermann. Auch der Italiener Luigi Cherubini befasste sich 1797 mit dem Stoff und verarbeitet ihn zu „Medée“, der einzigen seiner Opern, die heutzutage noch da und dort auf dem Spielplan landet – unter anderem in Mainz, wo die Produktion aus der vergangenen Spielzeit gestern zur Wiederaufnahme kam.

Elisbeth Stöppler wählt einen modernen Ansatz, um den Stoff und Cherubinis Musik, die mal nach Mozart, mal nach Beethoven und dann wieder nach Belcanto klingt, zu vermitteln. Der von Annika Haller gestaltete Bühnenraum ist weiß und nüchtern, im zweiten und dritten Akt wird ein wandelbarer, ebenfalls weißer Überseecontainer hereingefahren, die wenigen Requisiten werden von einem riesigen Nashorn dominiert, dessen Horn das goldene Vliess verkörpert. Im Zentrum der Geschichte steht natürlich Medea, doch wird Jason nicht bloss als Opfer der Mutter seiner Kinder gezeigt, sondern als machthungriger Macho, Dircé ist nicht nur Nebenbuhlerin, sondern sich gewissermaßen als Opferlamm fühlende Frau, die den Mann, mit dem sie verheiratet werden soll, nicht liebt, sondern sich vor ihm und der Zukunft, die er ihr bringt fürchtet. Wunderbar gespiegelt ist dieser Ansatz in den gelungenen, vornehmlich schwarz-weiß gehaltenen Kostümen von Annika Haller, die den an gouvernantenhafte Krankenschwestern erinnernden Chor in stützende Korsetts und die Braut in ein ein Gefängnis suggerierendes Brautkleid steckt. Das Licht von Alexander Dölling tut ein übriges, damit sich die Tragödie auf der Bühne entfalten kann.

Währende der Ouvertüre wird die Vorgeschichte auf die Bühnenwand projeziert, die gesprochenen Dialoge werden nahezu ausnahmslos durch fremde Texte zum Medea-Stoff ersetzt, die Anna Steffens auf Band eingesprochen hat und aus dem Off eingespielt werden. Scheinen diese Texte von Heiner Müller, Ingeborg Bachmann und Christa Wolf im ersten Akt noch eher überinterpretierend als unterstützend, sind sie in der zweiten Hälfte des Abends dermaßen passgenau auf die jeweiligen Szenen ausgesucht, dass sie beim Zuschauer in der Tat eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Stoff der Tragödie beflügeln. Unterm Strich ist also die moderne Lesart von Elisabeth Stöppler schlüssig, intensiv und packend – ganz anders als der ähnlich aufgebaute Versuch ihres Kollegen Florian Lutz, der vor einigen Jahren in Bielefeld das Drama durch eigene Texte demontierte.

Solch ein intensiver Theaterabend kann nur gelingen, wenn auf der Bühne nicht nur ausgezeichnete Sänger stehen, sondern auch überzeugende Schauspieler. In der rheinland-pfälizschen Landeshauptstadt ist dieses Kunststück gelungen: Dorin Rahardja als bedauernswerte Dircé singt betörend, glänzt mit beweglichem Sopran und unglaublich intensivem darstellerischen Ausdruck. Ihr Vater wird von Peter Felix Bauer verkörpert, der über einen feinen, fast noblen Bassbariton verfügt, der dem Korintherkönig gut steht. Geneviève King als Medeas Vertraute Neris hat einen warmen, geschmeidigen Mezzo, ihre Stimme umgibt einen während ihrer Szene im zweiten Akt fast wie Balsam.

Der Franzose Philippe Do ist mit der Figur des Jason betraut, sein schlanker Tenor ist durchaus klangschön, sein Spiel als zwischen Liebe und Machtgier Hin- und Hergerissener überzeugt, doch hatte er gestern erkältungsbedingt ein wenig mit der Höhe zu kämpfen. Und natürlich sie. Medea! Nadja Stefanoff verleiht ihrer Figur dastellerisch dermaßen intensiv Kontur, daß es einem kalt über den Rücken läuft. Sie gibt die Frau, die alles verloren hat, Heimat, Familie und Liebe, mit allen Facetten. Sie ist verzweifelt, willensstark, liebend, gedemütigt und kämpferisch in Kriegsbemalung, präsent, packend bis ins Mark, einfach wunderbar. Dazu singt sie, die vom Mezzofach kommt, herrlich differenziert, mit üppiger Tiefe und sicherer Höhe, bewältigt Cherubinis zum Teil atemberaubende Koloraturen mit Bravour und zieht so den kompletten Saal in ihren Bann.

Joo Hyun Cho und Anke Steffens überzeugen als Hofdamen ebenso, wie der tadellos singende und spielende, von Sebastian Hernandez-Laverny einstudierte Chor. Andreas Spering schlägt mit dem Philharmonischen Staatsorchester Mainz flotte Tempi an, musiziert genau und entfesselt die Kraft in Cherubinis farbenreicher Musik so aufs Vortrefflichste.

Das Mainzer Haus ist für die Wiederaufnahme eines eher selten gespielten Werkes außerordentlich gut gefüllt. Der Applaus gilt allen Beteiligten, allen voran der ausgezeichneten Sängerdarstellerin Nadja Stefanoff, die in diesen zweieinhalb Stunden Medea WAR.

Die Produktion läuft in Mainz nur noch ein einziges Mal, ist dann aber ab Ende März bis in den Juli hinein am Stadttheater Heilbronn zu erleben – durchaus also ein Grund, einmal an den Neckar zu fahren.

Ihr

Jochen Rüth aus Köln / 20.02.2016

Fotos (c) Andreas Etter.