Wenn ein Regisseur in seiner Inszenierung selbst auf der Bühne steht und gleich in eine Doppelrolle schlüpft, zeugt das nicht nur von Selbstbewusstsein, sondern auch von Spielfreude. Das wirkt ansteckend auf alle, die in diesem Musical mitwirken. Cusch Jung ist kein Nischenproduzent populärmusikalischer Massenware. Das bewies der Erfolg der Uraufführung seiner deutschen Version von Frank Wildhorns „Der Graf von Monte Christo“ in Leipzig. Nun darf er sich vor einem anspruchsvollen Publikum in einem erfolgsverwöhnten Theater präsentieren, das über einen großartigen Chor und eine brillante Hofkapelle verfügt, die vom ersten Moment an Fahrt aufnimmt. Wer die Romanvorlage von Alexandre Dumas kennt, ahnt, dass es eine Mammutaufgabe war, dieses über 1000 Seiten starke Werk auf ein überschaubares Handlungsgerüst zu kürzen, Schauplätze und Figuren auszuwählen und mit minimalem Interieur maximale Illusion zu erzeugen. Imposante, lebendige Videoprojektionen auf der hinteren Bühnenwand simulieren Schauplätze wie einen Hafen, einen Ballsaal, eine unterirdische Grotte, das Piratenschiff oder einen Duellierplatz im Nebel. Naturphänomene wie Sternenhimmel, eine Mondnacht oder die See ersetzen teure und irgendwann nutzlose Kulissen. Auch das ist eine Form von Nachhaltigkeit in diesem Metier. Farb- und Lichteffekte, Feuerwerk und Flammeninferno sind eine „Choreographie“ für sich.
Der Seemann Edmond Dantès bringt den todkranken Kapitän zum Sterben auf die Insel Elba und erhält einen politisch brisanten Brief, den er nach Marseille bringen soll. Soweit die Vorgeschichte. Nach seiner Rückkehr, inzwischen zum Kapitän befördert, verlobt er sich mit Mercédès und in „Ein Leben lang“ schwören sie sich ewige Liebe. Neid und Machtgelüste seiner angeblichen Freunde Fernand Mondego und Baron Danglars zerstören sein Glück. Auf Betreiben des Staatsanwalts Villefort wird er auf der heiteren Verlobungsfeier verhaftet und unschuldig auf die Gefängnisinsel Chateau d’If gebracht. Die Erinnerung an seine Geliebte lässt ihn Folter und Einsamkeit ertragen. Fernand tröstet sie inzwischen und überbringt ihr die Nachricht vom angeblichen Tod ihres Verlobten. Nach vielen Jahren in Haft lernt dieser den Mitgefangenen Abbé Faria, herrlich gespielt von Cusch Jung, kennen, der versucht, einen Tunnel in die Freiheit zu graben. Er ist ein Glücksfall für Edmond, denn er ist wachen Geistes, voller Elan, gebildet, temperamentvoll und keineswegs gebrochen. Zerlumpt mit wirrem Haar, aber einer goldenen Seele, bewirkt dieser liebenswerte Zausel eine Wende im Leben des anderen. Zu zweit graben sie weiter und er unterrichtet ihn dabei in Sprache, Schrift und Wissenschaften. Außerdem lehrt er ihn, sich zu verteidigen. Als Faria im Sterben liegt, vererbt er ihm seinen Schatz, der auf der Insel Monte Christo verborgen ist, warnt ihn aber auch, sich nicht selbst zum Rächer für erlittenes Unrecht aufzuspielen. Ihm gelingt die Flucht, indem er für den Toten gehalten und ins Meer befördert wird. Zum Glück retten ihn Piraten. Großartige Szenen auf einem verlotterten Schiff mit einer tölpelhaft spiel- und kampffreudigen Mannschaft in witzigen, bunten Kostümen gehören zu den Highlights, allem voran Sara-Maria Saalmann als Kapitänin Louisa Vampa. Kraftvoll, lasziv mit einem Touch von Domina hat sie ihre Meute im Griff und das ist kein Wunder: Sie sieht umwerfend aus, bewegt sich geschmeidig wie ein Raubtier und wird ob ihres raffinierten Outfits bestimmt von vielen Damen im Publikum beneidet. Ihr Song „Wahrheit oder Wagnis“ gehört zu den Höhepunkten des Musicals. Edmond muss sich im Messerkampf bewähren, verschont seinen Gegner, der ihm fortan als Gefährte Jacopo treu ergeben ist. Zusammen finden sie den Schatz in einer Meeresgrotte der Insel Monte Christo, der unermesslichen Reichtum birgt.
Ab jetzt nennt er sich „Graf von Monte Christo“. Mercédès, inzwischen verheiratet mit Fernand Mondego, lebt in Paris ein freudloses Dasein. Anna Preckeler verkörpert eine noch immer starke Frau, die ihre Würde und Distanz bewahrt. Den ekligen und trunksüchtigen Gatten spielt Shin Taniguchi mit einer solchen Intensität, dass sie einem leid tut. Noch immer birgt sie ihre Gefühle für Edmond im Herzen, der sich nun in Rom aufhält. Dort erfährt er von der Heirat der Geliebten und der Karriere seiner „Freunde“. Mit dem Schwur der Rache und der Vision eines flammenden Infernos endet der erste Akt.
Der zweite Akt beginnt mit Feuerwerk, Partystimmung und Karneval in Rom. Als Albert, Niklas Clarin, Mercédès’ Sohn, bei einem fingierten Angriff durch Louisas Leute in Bedrängnis gerät, kommt ihm Edmond zu Hilfe und rettet ihn. In Paris ranken sich inzwischen die Gerüchte um den geheimnisvollen Grafen und seinen kolossalen Reichtum. Die feine Gesellschaft, geladen zum Ball, erscheint in fürstlichen Roben passend zur Kulisse von „Klein-Versailles“. Der pompöse Rahmen befeuert die Gier der ehemaligen Freunde nach noch mehr und sie wittern phantastische Chancen. Bewusst irregeleitet unterschätzen sie den Grafen und freuen sich diebisch über sein finanzielles Entgegenkommen. Ihre Frauen, teils groteske Karikaturen von Emporkömmlingen, wie auch ihre Männer, sind geblendet. Mondego, der windige Baron Danglars, gespielt von Stan Meus und Staatsanwalt Villefort, eine Paraderolle für den stattlichen Johannes Mooser, sind blind für die wahre Identität des Gastgebers. Nur Mercédès erkennt ihn. Nachdem der Graf alle in den Ruin getrieben hat, fordert ihn Albert zum Duell. Kahle Bäume im Nebel schaffen eine düstere Atmosphäre. Aus Angst um den Verlobten bittet Valentine, Monika Reinhard, Villeforts Tochter, Edmond um Gnade und weist ihn auf die Scheinwelt hin, in der sie beide aufgewachsen sind und für die sie nichts können. Tatsächlich lässt er ihn am Leben. Nun vollzieht sich die Wende zu dem „Menschen, der er einst war“, und damit findet er wieder zu Mercédès. Jetzt erfährt er auch, dass Albert eigentlich sein Sohn ist. Rasend vor Wut fordert Mondego seine Frau zurück und fällt im Kampf. Mit „Niemals allein“ schließt sich der Kreis. Marc Clear überzeugt als Hauptfigur sowohl gesanglich wie schauspielerisch. Vom frisch Verlobten, einem fast zarten jungen Mann, dem gezeichneten und auch alternden Gefangenen, dem Wahlpiraten über den Rächer und reichen Grafen verkörpert er recht authentisch jede dieser Stationen und seit seinem Debüt in Leipzig gehört er zu den wenigen Darstellern dieser aufwändigen Rolle. Anfangs noch etwas zurückhaltend, gewinnt er im Gang der Ereignisse immer mehr an Drive und Präsenz und meistert den wildhornschen Musicalstilmix mit Bravour. Monika Preckeler, die die Mercédès ebenfalls seit Längerem spielt, zeigt wirkliche Größe und Talent. Spiel und Gesang in völligem Einklang sind ein ruhender Gegenpol zu Edmond und Mondego. Sie bewahrt fast distanziert ihre Würde und Haltung. Niklas Clarin als Albert darf hier ruhig etwas aufgeregt wirken.
Man merkt ihm an, dass er als Neuling im Ensemble sehr bemüht ist. Dass wirklich jede Rolle – wie immer in Meiningen – ideal besetzt ist, auch wenn sie noch so klein ist, zeigt sich mit Johannes Mooser, derals Villefort mit Stimmgewalt und körperlich eindrucksvoller Präsenz einen der Schurken darstellt. Stan Meus passt da als kleiner diabolischer und maliziöser Baron stimmlich und optisch gut dazu. Shin Taniguchis Fangemeinde muss diesmal ihren Star zwar als Bösewicht hinnehmen, doch gerade als Widerling und Verräter hat er eine enorme Ausstrahlungskraft. Und die hat auch Multitalent Cusch Jung, der das Individuum des Abbé in Mimik, Gestik und mit einer solch ausdrucksvollen Stimme zu einer wirklichen Persönlichkeit stilisiert. Diese Klasse spürt man auch in seiner weiteren Rolle als Jacopo. Spannungs- und temporeich jagt das Orchester der Meininger Hofkapelle unter Harish Shankar in Hochform von Szene zu Szene und illustriert Emotionen und Handlung. Lautstärke muss sein, aber manchmal hat man Mühe, die Sänger zu verstehen. Wie immer hat Manuel Bethe mit seiner Choreinstudierung der Aufführung Glanz, Leben und ganz besondere Szenen einverleibt. Die Kostümideen voller Witz und Raffinesse von Sven Bindseil haben den Meininger Werkstätten bestimmt schon bei der Herstellung Spaß gemacht, und dann erst den Schauspielern und dem Publikum!! Karin Fritz setzt beim Bühnenbild auf besondere Effekte, wennbeispielsweise die Seitenwände teilweise verspiegelt sind und so den Raum vergrößern. Die Videoprojektionen von Karl-Heinz Christmann sind– wie oben schon beschrieben – phänomenal eindrucksvoll und erzeugen die perfekte Illusion. Natürlich strotzt der Stoff des Romans vor Dramatik und Action und könnte auch im Musical zu einer Mantel-und-Degen-Revue geraten. Doch Regisseur Cusch Jung hält sich mit Pathetik zurück und gibt erträglich dosiert auch der Komik Raum. Dies zeigt sich z.B. in der Figur des Abbé, bei den sächselnden Gefängniswärtern und bei den Piraten. Auch die Matronen der Pariser Gesellschaft wirken in ihren Roben und mit zementierter Haarpracht hinreißend komisch.
Lang, lang anhaltender Applaus und begeisterte Bravorufe zeigen dem Ensemble und Orchester, dass ihm mit dieser Vorstellung wieder ein Erfolg gelungen ist. Wer Karten will, muss schnell sein!!
Inge Kutsche, 4. Dezember 2022
„Der Graf von Monte Christo“
Musical in zwei Akten von Frank Wildhorn
Besuchte Premiere: 2. Dezember 2022
Inszenierung: Cusch Jung
Musikalische Leitung: Harish Shankar
Meininger Hofkapelle
Weitere Vorstellungen: 17. und 31. Dezember 2022, 27. Januar, 8. und 15. April, 21. Mai, 4. Juni 2023