Uraufführung am 13.01.2021
Ballett des Landestheaters Eisenach
Choreografie: Alfonso Palencia
Musikalische Arrangements: Massimo Margaria
Leben, Lieben und Tod sind Allerweltsthemen. Menschen gehen damit in unterschiedlicher Intensität um. Die Einen tanzen auf der Oberfläche, distanziert oder fatalistisch ergeben, die Anderen lassen sich mitreißen, erleben alle Schattierungen, analysieren und beginnen immer wieder von Neuem. Kann man das wirklich so schwarzweiß sehen?
Für Alfonso Palencia, Gastchoreograf am Landestheater Eisenach, ist die stetige Suche des Individuums nach sich selbst und der Kampf um Identität ein immanenter Zustand. Texte von Virginia Woolf, Frederico García Lorca und Mascha Kaléko boten Inspiration, und Massimo Margarias Idee, elektronische und klassische Musik von Max Richter, Philip Glass, Johann Sebastian Bach u.a. in einem monumentalen Soundtrack zu vereinen, gibt diesem Werk Wucht und Präsenz.
Im ersten Teil „Identitas“ interpretiert die international besetzte 12-köpfige Company die Suche nach Anerkennung, Liebe, Nähe und Partnerschaft. Es geht um Selbstfindungsprozesse mit glücklichen und leidvollen Erfahrungen, das Ausloten der sexuellen Orientierung und die Akzeptanz in der Gesellschaft. Es bedarf keiner Worte, weil Tänzerinnen und Tänzer diese Stimmungskontraste in hochemotionalen Bildern ausdrucksstark umsetzen. Lichtkegel fokussieren einzelne Figuren in ihrer Ästhetik und Schönheit, wenn Körper im Duett oder Trio verschmelzen. Die hyperpräsente Musik befeuert das rasante Tempo. Alles ist im Fluss, ein ewiger Reigen, schwerelos mit immer gleichen Gesten der Scheu, Distanz, Annäherung, des Findens, der Hingabe und Anpassung bis Zweifel, Missverständnisse, Streit, Gewalt und Trennung verstören.
Die szenische Darstellung des inneren und äußeren Geschehens ist von höchster Intensität. Wenn die Akteure im permanenten Wechsel sich gegenseitig das Gewicht abgeben, übereinander rollen, sich strecken, kauern, am Boden liegen, kopfüber und -unter von einer Position in die nächste gleiten, bemerkt man nichts von der enormen Anstrengung. Synchrone Bilder der gesamten Company bestechen in ihrer Präzision genauso wie der hochakrobatische Paartanz. Ohne hartes Training, Askese, Hingabe und Ernsthaftigkeit wäre diese künstlerische Performance nicht gelungen. Der Betrachter erkennt zweifellos alle Symbole menschlicher Beziehung, darf sie interpretieren, reflektieren und findet vielleicht sich selbst.
Während „Identitas“ real nachvollziehbar ist, bleibt „Anima“ ein rein spirituelles Konstrukt. Palencia gestaltet seine Vision vom Übergang ins Totenreich mit einer Transformation der Seelen. Symbolträchtig führt eine Treppe auf großformatigem Hintergrundbild nach oben ins Ungewisse oder ins Licht. Auf dem Weg dorthin müssen sie sich erst einmal selbst finden, realisieren und akzeptieren, dass sie tot sind. Tänzergruppen in weißen, grauen und schwarzen Kostümen, genderneutral, gestalten verschiedene Stadien. Die „Weißen“ verkörpern in Reinheit und Schwerelosigkeit den vollzogenen Übergang ins Jenseits. Die „Grauen“ sind erst gestorben und wissen noch nicht, was mit ihnen passiert ist. Die „Schwarzen“ sind in einem Zwischenreich und erleben einen schmerzlichen Prozess des Loslassens, erkennen aber auch den hoffnungsvollen Weg nach oben. In plötzlichen, heftigen Bewegungen, im Aufbäumen und Niederwerfen, lassen sie sich durch peitschende Musik von einer Richtung zur anderen katapultieren.
Schrille Töne sind Metaphern für ihre Unsicherheit und Verzweiflung. Doch da gibt es die „Weißen“, die die Neuen mit Liebe umfassen, um sie zum Loslassen zu bewegen. In anmutiger Leichtigkeit umspielen sie die von Schock und Grauen geprägten Seelen, nehmen sie in ihre Obhut und flößen ihnen Mut ein, bis sie bereit sind, um dann zu „erweißen“. Metaphorisch schweben Türen herab, die den Übergang in eine andere Welt bedeuten. Jauchzende, schrille, aber auch finale Klänge begleiten sie.
Junge Menschen für die Auseinandersetzung mit diesem Thema zu gewinnen, spricht für das Charisma des Choreografen und die Sensibilität dieser Generation, die selbst Betroffene der Pandemie sind. Nahezu ehrfürchtig und sichtlich ergriffen zollt ihnen das Publikum großen Respekt für die beeindruckende künstlerische Leistung mit lang anhaltendem Applaus.
Inge Kutsche, 17.1.22
Fotos(c) Carola Hoelting