Meiningen: „La Bohème“, Giacomo Puccini

Über ein halbes Jahr liegt der letzte Besuch in Meiningen zurück. Endlich bin ich wieder mit fast 60 Freunden unterwegs und wieder gibt es bei der Heimfahrt im Bus rege und gegensätzliche Diskussionen. Diskussionen über eine Oper, von der wir alle glaubten, sie in- und auswendig zu kennen, der altehrwürdigen „La Bohème“. Einer der bedeutendsten zeitgenössischen Künstler Maler und Bildhauer Markus Lüpertz zeichnet in Meiningen für das Bühnenbild, die Kostüme und Regie verantwortlich. Ihn zu verpflichten war ein genialer Schachzug des neuen Intendanten Jens Neundorff von Enzberg. Er hat damit erreicht, die Neugier der Fachpresse auf Meiningen und diese Inszenierung zu ziehen und bei der Premiere im Dezember 2021 war die Aufregung groß. Fernsehteams, Journalisten führender Zeitungen, Reporter der überregionalen und der regionalen Presse waren vor Ort und begleiteten das Ergebnis.

© Jochen Quast

Markus Lüpertz hat diese Herausforderung angenommen, die seiner Meinung nach nur ein Genie bewältigen kann, und dass ist er nach seiner Auffassung. Natürlich war das Ganze auch eine großartige Werbung für das Staatstheater, aber auch für die Stadt Meiningen selbst. Lüpertz hat aus seiner Sicht keine Regie im eigentlichen Sinne geführt, sondern er hat in erster Linie als Maler gehandelt und eine Atelierarbeit auf die Bretter, die die Welt bedeuten, gestellt. Alles in dreidimensionalen Requisiten, in knallbunten Kulissen, alles groß, alles gigantisch, alles aus Papier und Pappe, alles überdimensioniert, alles knallig bunt. Ich habe mich bei dem Bühnenbild und den Kostümen an den Disneyfilm „Alice im Wunderland“ erinnert, der ebenso quietschbunte Bilder dargeboten hat und einfach nur schön war. Das Ganze ist Geschmackssache, hat sicher einen bestimmten Charme, der sich jedoch nicht allen Besuchern erschließt. Manche sagten mir auf der Heimfahrt, dass es ihnen ein bisschen zu kitschig vorgekommen sei. Auch das permanente direkt an der Rampe zu singen, was bei dieser Inszenierung wieder Eingang auf die Bühne befunden hat, bot viel Anlass zu Diskussionen und zu gegensätzlichen Meinungen. Musiktheater muss, gerade in der heutigen Zeit, etwas bewegen und so finde ich die Inszenierung auf jeden Fall spannend und auch vom optischen schön anzusehen.

Was mich jedoch etwas stört und wo ich auch für mich den Sinn nicht ganz erkenne, waren die drei Texte, die Lüpertz für diese Inszenierung eigens geschrieben und gesprochen hat, die seine ganz eigene Interpretation der Boheme wiedergeben und die Handlung begleiten, vielleicht bin ich für diese Art von Texten nicht offen genug, sie haben mir nicht so viel gesagt, mir hat sich ihr Sinn nicht erschlossen außerdem hat das Ganze den Ablauf der Oper gestört. Auf jeden Fall bietet diese Inszenierung Gesprächsstoff.

Immerhin saß auch und an diesem Sonntagnachmittag der Künstler höchstpersönlich in der Loge des Staatstheaters Meiningen. Starker Applaus für Markus Lüpertz, als er sich nach der Vorstellung mit den Künstlern zusammen nochmal verbeugte. Für seine Ideen und Phantasien hatte er auch mit Maximilian Eisenacher einen erfahrenen Co-Regisseur zur Seite, der die Ideen des Meisters in dessen Sinn umsetzte und viel zum Erfolg beitrug, ebenso wie Ruth Groß, die für die Zusammenarbeit von Kostüm und Bühne verantwortlich zeichnete und die alles tat, dass die Ideenflut des Malers auf die Bretter der Meininger Bühne umgesetzt werden konnte.

Ja, hier hat sich ein Team gefunden, welches, jedenfalls für alle, die es zuließen, das Optimale aus den Ideen des Künstlers Markus Lüpertz herausholte. Ob gerade eine doch etwas traurige Oper wie „La Bohème“ hier das richtige Objekt gewesen ist, lasse ich einmal so stehen…

© Jochen Quast

Die Meininger Hofkapelle, eines der Spitzenorchester in Deutschland, wird an diesem Nachmittag von GMD Philippe Bach geleitet. Vortrefflich bietet das Orchester die wunderschöne und zeitlose Musik Puccinis an. Eine komplette Geschlossenheit, die Erarbeitung feinster Nuancen wo es machbar ist, eine feurige Leidenschaft, aber vor allem auch eine stille sängerdienliche Zurückhaltung, um den Wohlklang der Stimmen nicht zu zerstören und die Sänger nicht zu überdecken, das alles zeichnet diesen Klangkörper aus. Das liegt auch daran, dass Philippe Bach „seine Musiker“ voll im Griff hat, sie behutsam, zurückhaltend, aber auch feurig und aufbrausend führt, ein wahrer Meister des Taktstocks und ein leidenschaftlicher Dirigent, der seine Musiker zu Höchstleistungen anspornt, der gleichsam mit seinem Orchester atmet. Das Publikum zeigte sicht spürbar beeindruckt und geizt nicht mit wohlverdientem Beifall.

Der von Manuel Bethe einstudierte Chor macht seine Sache sehr gut, alles ist aufeinander eingespielt, alles läuft im Takt. Dass Markus Lüpertz vor allem natürlich Maler ist und seine Inszenierung praktisch auch gemalt hat, also den Anspruch hat „Farben zum Singen“ zu bringen, merkt man beim Chor im zweiten von vier Bildern, wenn er im Hintergrund, aufgestellt wie Bäume oder auch Kerzen, in einem grün, welches richtig grell und giftig ist, mit einem roten Schopf oder einer Mütze, mit jeweils einer Kerze in der Hand, ein wirkliches Bild, wie gemalt abgibt, gemalt wie ja die gesamte Inszenierung.

Kommen wir zu den Sängern. Hier schöpft Meiningen aus dem Vollen. Solange ich dieses Haus besuche und das ist, Gott sei Dank, schon sehr lange, habe ich noch nie einen wirklichen Ausfall erlebt, sondern immer nur hohe Qualität. Für ein solches Haus, neben dem Orchester, ein Pfund mit dem sich wuchern lässt.

Als Mimi tritt die seit zwei Jahren an der Bühne engagierte Sopranistin Deniz Yetim an. Die in Izmir, der drittgrößten Stadt in der Türkei geborene Sängerin, legt all ihr Herzblut in die Gestaltung dieser berührenden Partie. Mit einer warmen samtenen Ausstrahlung, anrührend und dramatisch, verkörpert sie auf unnachahmliche Weise den Schmerz und das Leid dieser jungen, kranken, hoffnungslos verliebten Frau. Ihr voller, durchschlagskräftiger, jedoch auch zarter, weicher und stimmschöner Sopran bezaubert nicht nur Rodolfo, sondern auch das Publikum. Am Ende des vierten Bildes stirbt sie im Stehen an der Rampe stehend. Starken Beifall für eine wahrlich tolle Leistung. Al Rodolfo steht ihr der junge südkoreanische Tenor Alex Kim zur Seite, der seit drei Jahren zum festen Ensemble gehört. Mit strahlendem Tenor, der keine Höhenprobleme zu kennen scheint, schmelzendem Timbre und leidenschaftlicher Gestaltung, ist er der ideale Partner. Beide Stimmen verschmelzen bei den Duetten miteinander und man merkt richtig, wie man im Publikum den Atem anhält, um ja keinen der Gänsehautmomente zu verpassen. Ein ideales Paar, was sich hier gefunden hat und sich auf die schönste Art miteinander verbindet. Keinerlei Abstriche beim Darstellerischen, wie auch bei allen weiteren Solisten.

© Jochen Quast

Als Musetta erleben wir die in Oberhausen geborene Koloratursopranistin Monika Reinhard. Seit neun Jahren ist sie hier an der Bühne tätig und sie füllt ihre Rolle mehr als hervorragend aus. Mit weichen, zarten, glasklaren, blühenden Höhen und glockenreiner kraftvoller Stimme, verkörpert sie das etwas flatterhafte Mädchen, für die Treue ein bisschen ein Fremdwort ist, um im vierten Bild viel Seelenwärme und Mitgefühl zu zeigen. Ebenfalls begeisterter Applaus für eine tolle Leistung. Diese tolle Leistung zeigen auch die drei Freunde des Dichters Rodolfo, jeder auf seine Weise. Da ist einmal der in Südkorea geborene Bariton Julian Younjin Kim, der den Maler Marcello darstellt. Mit leidenschaftlichem beweglichem, starken und stimmschönem Bariton verleiht er seiner Rolle die notwendige Durchschlagskraft. Tomasz Wija, der in Polen geborene Bassbariton, fügt sich als Schaunard mit großer Intensität und kraftvoller Stimmführung nahtlos in die guten Leistungen ein. Als dritter im Bunde, kann der in Joensuu geborene, finnische Bass Mikko Järviluoto als Philosoph Colline mit durchschlagskräftiger Stimme, welche er vor allem im Mantellied eindrucksvoll zur Geltung bringen kann, mehr als punkten. Natürlich kann das Urgestein auf der Bühne von Meiningen nicht fehlen. Der polnische Tenor Stan Meus, der seit 24 Jahre zum Ensemble in Meiningen gehört, holt alles aus der Rolle des Parpignol heraus. In weiteren Rollen fügen sich, ohne Fehl und Tadel, Raphael Hering als Benoit, Sergant, Thomas Lüllig als Alcindor und Matthias Richter als ein Zöllner nahtlos ein und vervollständigten das Ensemble stimmig.

Langanhaltender, fast nicht endend wollender Applaus, zeigt, dass es den Besuchern sehr gut gefallen hat und man auch einen etwas anderen als normalen Opernnachmittag mehr als positiv betrachten kann. Meiningen ist immer eine Reise wert und ich freue mich schon auf die nächsten Aufführungen.

Manfred Drescher, 28. Februar 2023


La Bohème

Giacomo Puccini

5. Februar 2023

Premiere: 10. Dezember 2021

Staatstheater Meiningen

Regie, Bühne und Kostüme: Markus Lüpertz

Musikalische Leitung: GMD Philippe Bach

Meininger Hofkapelle