Meiningen: „Regina“

Albert Lortzing

Premiere: 18.3. 2016

Germania weint schwarze Tränen

Albert Lortzings Oper Regina – das opernhafteste seiner Bühnenwerke – ist ein äußerst seltener Gast auf unseren Bühnen. Geschrieben im Revolutionsjahr 1848, hatte und hat dieses außergewöhnliche Werk den Ruf der „Revolutionsoper“ – kein Wunder, dass die Dame erst ein halbes Jahrhundert nach jenen Ereignissen auf die Bühne kam, ohne die sie nicht geschrieben worden wäre. Die ersten der wenigen Inszenierungen boten jedoch nur Verstümmelungen des Werks: mal politisch rechts, mal – in der DDR – realsozialistisch. Als Regina 1998 von Peter Konwitschny in Gelsenkirchen inszeniert wurde, konnte man zum ersten Mal das Original besichtigen. Nun hat das Theater Meiningen zugegriffen und eine Version der Oper abgeliefert, die dicht an den Ereignissen von 1848 dran ist – und doch immer wieder durchschimmern lässt, dass die Hauptaspekte des Werks nicht von gestern sind.

Lortzing hat, als sein eigener Librettist, auch in der Regina, deren Grundkonflikt – da steht eine Frau zwischen einem „guten“ und einem „bösen“ Mann – nicht politisch, sondern privat ist, seine politischen Überzeugungen versifiziert. Es sind die Überzeugungen eines liberalen Demokraten, der die Gewalt als Mittel der Politik ablehnt – und doch nicht ganz frei ist von Tönen der Aggressivität. Dass die Intention der Regina seltsam gebrochen erscheint, ist weniger dem Komponisten als den komplizierten Zeitläuften anzulasten: beginnt die Oper pur sozialdemokratisch – mit dem Streikaufruf der Arbeiter gegen „Knechtschaft und Tyrannei“ in einer Fabrik von 1848 -, so wird der Konflikt zwischen dem guten Herrn und den Knechten schon schnell – und rein rhetorisch, also „auf milden Wegen“ – befriedet.

Fürs anarchistische Element sorgt eine marodierende Herde von Freischärlern, die zwar als böse Buben eines extremen Kommunismus charakterisiert werden, aber dank des loyalen Fabrikarbeiters Kilian unfreiwilliger Mithilfe propagandistisch angefeuert werden: „Freiheit, Recht und Vaterland“ sollen, folgt man dem heiteren Lied, mit Gewalt durchgesetzt werden. Die Stelle bleibt zweideutig, weil die mitreißende Propaganda aus dem Mund eines ängstlichen Gegenrevolutionärs tönt – und am Ende siegen die braven Bürger über die roten Rotten, um ihr Liedlein von Freiheit und Einheit marschmäßig ins Publikum zu posaunen.

Wenn die selben Bürger schließlich – nachdem sie die Strohpuppen der königlichen Minister an schwarzrotgoldenen Bändern symbolisch aufgehängt haben – zum letzten Mal die Freiheit besingen, klingt’s bedrohlicher in den Raum. Nun wird der Ruf nach königstreuer Einigkeit zum imperialistischen Kampfruf; kein Wunder, dass die nach dem Bilde der Frankfurter Nationalversammlungs-Germania geformte Göttin, die im beeindruckenden Finale auf die Bühne geschoben wird, plötzlich schwarze Tränen der Trauer weint und zu brennen beginnt. Wir wissen ja, wie es nach der Niederschlagung der Revolution, über die Reichsgründung zum ersten und zum zweiten Weltkrieg, mit der deutschen Geschichte weiterging: nicht sonderlich demokratisch. Dafür stand schon das erste Bild des Abends ein: in dem Moment, in dem Lortzings Ouvertüre mitten im Takt abbricht, wird der Frankfurter Parlamentarier Robert Blum, mit dem Lortzing befreundet war, erschossen. Ein Justizmord, der der Komposition quasi eingeschrieben ist. Regina ist daher, hieß es 2013 anlässlich von Hansgünter Heymes Ludwigshafener Inszenierung, „keine Revolutionsoper, sondern weist den Weg zur Neugestaltung Deutschlands nach dem so erhofften Sieg über den Feudalismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts“.

Der Regisseur Lars Wernecke muss den Text nicht umschreiben, um die Aktualität des Friedensaufrufs und eines Beharrens auf Einigkeit in Frieden und Freiheit für die Gegenwart herauszuarbeiten; das einfache Wenden zur Rampe bringt Lortzing, mit all seinen Brüchen, ins Heute. Die Regie – nicht experimentell, sondern vorsichtig zur Sache gehend – erortet, dank des realistischen wie mehrseitig offenen Bühnenbilds von Dirk Immich, das Werk dort, wo es entstand: im Jahre 1848. Schön ist die Idee, jeweils zwei Tänzerinnen und einen Tänzer die dreifarbigen Galgen-Bänder umschlingen zu lassen; gut der Einfall, die Empörung gegen den Krieg, die Kilians Mutter coram publico äußert, aus der Zeitungslektüre aufsteigen zu lassen, und noch schöner der Turm, in dem sich der unglückliche Aufrührer Stephan mit seinem Opfer, der geraubten Regina, verschanzt. Im Übrigen hat Lortzing diesen vom politischen Glauben abgefallenen Dritten im fatalen Liebesbund psychologisch zu erklären versucht. Nein, er wurde nicht böse geboren, das Leben hat ihn böse gemacht: ein Zerrissener, der nicht so kann wie er will, und der nicht so darf, wie er möchte. Dass Lortzings Oper erst spät auf die Bühne kam, liegt sicher auch am Skandal des letzten Akts: 1848 gab es zwar schon sog. Flintenweiber, aber dass eine Frau einen Mann – wenn auch in äußerster Notwehr – auf der Bühne über den Haufen schießt, muss als starker Tobak empfunden worden sein. Auch in dieser Hinsicht hat die Bearbeitung Wilhelm Neffs, die in der DDR erschien, den Skandal entschärft: hier waren es die Befreier, die den Räuber aus Leidenschaft im Gefecht erledigten.

Der Werkmeister Stephan ist in dieser Inszenierung Matthias Vieweg, der mit seinem leichtgeführten, hellen Bariton die verzweifelte Lyrik dieses Zerrissenen gut ausspielt. Sehr gut kommt schon seine ausgedehnte Selbstvorstellungs-Arie: das autobiographische Porträt eines zur Hölle Verdammten, der doch so gerne Engel geblieben wäre.

Daniel Szeili macht den „Geschäftsführer“ Richard, den Verlobten der Regina, der insgesamt über einen schönen Tenor verfügt, der nur ganz oben zum Lagrimoso neigt. Darüber sollte man man nicht beckmessern sollte, denn es macht einfach Freude, die wohlgeformte, im besten Sinne männliche Stimme Szeilis zu hören. Ernst Garstenauer spielt den Fabrikbesitzer Simon wie ein zweiter Sarastro; in seiner Auftrittsarie – auch er ist, wie der Sonnenpriester, gerade von einer längeren Reise zurückgekehrt – glänzt er durch Schönklang – und Koloraturen. Apropos Mozart: man hört, dass Lortzing Mozart liebte, dass er mit Heinrich Marschner, aber auch mit der aktuellen Wiener Walzermode vertraut war. Seine Musik präsentiert sich als Mischung aus echtem Lortzing und zeitgenössisch Dramatischem: nicht zum Nachteil einer spannungsreichen Oper, die nicht sowohl aufklären als auch unterhalten soll. Den Rest machen die kurzweilige, von der Meininger Hofkapelle unter Lancelot Fuhry temperamentvoll gespielte Musik, der ganz ausgezeichnete Chor des Südthüringischen Staatstheaters (Regina ist eine große Choroper!).

Und schliesslich, vor allem – last not least! – die Titeldarstellerin, die wunderbare Anne Ellersiek. Als indisponiert angekündigt, entzückte sie nicht allein den Rezensenten durch ihren vornehmen Ton, der für emotionale Anteilnahme genug Raum ließ: die Fabriktochter als glücklich Liebende und unglücklich Entführte. Herausragend: ihre Preghiera (das operntypische Gebet) und das Quartett, in dem die von den Freischärlern Eingeschlossenen ihrer Hoffnung Ausdruck geben, heil zu entkommen.

Auch und gerade Anne Ellersiek lohnt die Reise nach Meiningen, wo ein zugleich politisches und unpolitisches Hauptwerk Albert Lortzings auf gediegene Weise wiederauferstand.

Frank Piontek, 19.3. 2016

Fotos (c) ed Meiningen