Nürnberg: „Carmen“

Premiere: 2.10. 2021

Sieht sie nicht ein wenig aus wie die Senta in Dmitri Tcherniakows umstrittener Holländer-Produktion der diesjährigen Bayreuther Festspiele? Bewegt sie sich nicht so aufreizend eigenständig über die Bühne wie die junge Frau, mit der sie zumindest Eines zu teilen scheint: die Intervalle der „großen“ Nummern?

Es wäre reizvoll, einmal Wagners und Bizets Figuren miteinander zu vergleichen – um am Ende festzustellen, dass sie vielleicht mehr miteinander zu tun haben, als es Cosima Wagners Wort vom „grellen Hervortreten der jetzigen französischen Manier“ suggeriert. Im Übrigen war (ausgerechnet, denn sie saß ja im Glashaus) sie der Meinung, dass ein Mann, der seine Frau bei der Untreue ertappe, dass Recht habe, sie zu töten. Dies nur als Bayreuther Einstieg in die neue Nürnberger Carmen-Inszenierung, die, zumindest vom Optischen, gelegentlich vom Tänzerischen her, eher mediterran als deutsch anmutet, bis hin zur Tatsache, dass das Klischee vom flamencotanzenden Volk (das ja kein Klischee ist) sowohl auf der Bühne als auch im Zuschauersaal – durchaus ohne ironischen Abstand (es störe sich dran, wer will) – seine Bestätigung erfährt. „Sso ssind wir“, spricht mir eine charmante und lustige Frau aus Andalusien ins Ohr, als sich auf der Bühne die drei Frauen von der folkloristischen Tanz-Compagnie, darunter zwei gebürtige Frauen aus Spanien (Miriam Fernandez Benitez und Sara Ruiz, daneben Katharina Fixl), laut und notorisch schnell schnatternd um Don Jose streiten, bevor zu Beginn des letzten Akts ein begeisterter „Ole!“-Ruf aus der 10. Parkettreihe zur Bühne schallt. „Carmen“ ist, man hört‘s an diesem Abend, eine echte spanische Oper; es macht durchaus Spaß, gerade an diesem Abend in der Spanien-Kurve zu sitzen.

Dass das Bühnenbild eher Kuba als Andalusien verpflichtet ist, verschlägt dabei nichts. Die Inszenierung Vera Nemirovas und die Szenierung Heike Scheeles (wieder eine Meisterarbeit der Herheim-Partnerin) hat nicht den Anspruch, die Oper in einer konkreten Zeit und mit authentischen politischen Inhalten auszustatten, auch wenn die Bilder des ersten, zweiten und vierten Akts dies nahelegen. Im Gegenteil: Die Tatsache, dass Akt 1, 2 und 4 in einem ruinierten Theater spielen, das wir uns in Havanna vorstellen können – kam frau angesichts der Habanera auf diese Idee? – verweist auf Anderes, denn hier wird keine Positionierung vorgenommen, sondern, das macht spätestens das zweite Bild klar, ein typisch scheelescher Fantastischer Realismus gesetzt. Wenn wir den Entr‘acte zum dritten Akt hören, der den ersten Teil des Abends beschließt, versinkt plötzlich der untere Teil der Bühne auf der Bühne, um den Sternenhimmel sichtbar zu machen, unter dem die Schrecken des 3. Akts vor sich gehen werden – und Carmen, zärtlich und zärtlichkeitsbedürftig wie keine Zweite, setzt sich neben den traurigen Clown, der die Gestalt des Kaschemmenwirts Lillas Pastia (mehr als eine Charge: Anton Koelbl) angenommen hat, legt ihren Kopf an seinen und fasst seine Hand, während der sie im Arm hält. Und dazu Bizets zauberische Musik, die von einer Idylle träumt, die es für Carmen nicht geben wird. Die Schönheit der Oper…

Diese Carmen ist eine Theater-Carmen, obwohl Anna Dowsley, prachtvoll lyrisch, opernhaft groß (doch nicht forciert) und dramatisch erfüllt genug agiert, um die „Wirklichkeit“ einer Figur zu beleuchten, die sich tatsächlich, wie es im Programmheft heißt, ihre „Liebhaber“, also Sexpartner, auszusuchen pflegt, auch wenn man, vertraut man Egon Voss und seinem wichtigen Aufsatz im Carmen-Band der Rowohlt-Opernreihe von 1984, auch davon überzeugt sein könnte, dass Carmen in dieser Welt des Verbrechens und des Prekariats stets Objekt, nie Subjekt – und schon gar nicht jene femme fatale ist, für die man sie einmal hielt. Anna Dowsley ist, man sieht’s in der Schmuggler-Szene, auch nur ein Opfer der brutalen Kerle, die eine eigene Art von Schmuggel betreiben – dass hier Menschen zu Ausbeutungsopfern werden, die man gegen Geldzahlungen und Passabnahmen in Container pfercht, ist weniger zeitgeistig als angemessen; zudem reibt sich diese Interpretation nicht mit dem Text, auch nicht mit der Musik, der man das Operettenhafte einer heiteren Opera comique auch dann anhört, wenn das Nürnberger Staatsorchester unter Guido Johannes Rumstadt und die Sänger nicht so luftig musizieren wie es im 19. Jahrhundert üblich (und angesichts der präzisen Bizetschen Partituranweisungen) und noch der Einspielung unter Andre Cluytens (von 1950) anhörbar ist. In Nürnberg setzt man an den dramatischen Stellen innerhalb der Dialogfassung (man spricht die deutschen Texte von Walter Felsenstein) eher auf große als auf die Tradition der „Opéra comique“ – was weder Miss Dowsleys Leistung noch die ihrer Bühnenpartnerin Julia Grüter schmälert.

Julia Grüter – wer sonst an diesem Haus könnte diese Partie so vollkommen singen und spielen? – ist eine Micaela von hohen Graden. Zauberhaft die von Bizet geforderte lyrische „simplicité“ dieser mit einem klaren Stimmprofil charakterisierten Rolle, bannend die Schönheit ihrer vokalen Linien.

Dass Tadeusz Szlenkier den Don José mit Kraft und dem leicht lagrimosohaften Pathos seiner Stimme singen wird, war klar. Es passt zur Rolle des Mannes, der schon Angst hat vor Micaela (der mütterliche Kuss kann nur durch die Luft fliegen) und vollen Gehorsam und Treue dort einfordert, wo gerade diese Forderung die Liebe – oder das, was Carmen und Don José davon halten – töten muss. Wenn im Schlussbild Carmen als Torera prachtvoll gekleidet die leere Arena vor der Bühnenbühne betritt, weil sie sich auch optisch dem Mann angleichen will, für den offensichtlich ihr Herz (zumindest jetzt) zu schlagen scheint, wird klar, wer der Stier ist, der dort am notwendigen Ende in seinem Blut zu liegen hat – doch könnte der Zuschauer auch auf die Idee kommen, dass Don José eine andere Art von toro ist: nur, dass er, indem er Carmen tötete, sich selbst getötet hat. Und er könnte vermuten, dass die Situation von Carmen freiwillig umgedreht, ja pervertiert wird: denn sie ist, sie weiß es, der Stier, der finalmente zu Boden fallen muss, damit sie, Carmen, aus einer Situation erlöst wird, für die nicht einmal Richard Wagner den rechten „Erlösungs“-Schluss gefunden hätte – „Erlösung gibt es nur dort, wo es keine Lösung gibt“, wie Vera Nemirovas Lehrer Peter Konwitschny einmal so schön sagte. Aber stimmt es noch im Zeitalter der Emanzipation, der Metoo-Debatte und der Epoche, in der ein „Nein“ nichts als „Nein“ bedeutet?

Vera Nemirovas Inszenierung wird dem sog. Mythos namens Carmen insofern gerecht, als dass sie letzten Endes auf eine allzu eindeutige „Lösung“ und Beurteilung der Konflikte, die diese Oper grundieren, verzichtet. Stattdessen setzt sie, wie gesagt: mit Heike Scheele (und der Kostümbildnerin Marie-Thérèse-Delnon), auf eine latente Offenheit, die die Figur Carmen weder sozialgeschichtlich verkleinert noch mythologisch aufbläst. Diese Carmen ist eine Frau, deren Attraktivität für die Machogesellschaft zutage liegt, und mit der sie solange spielt, bis sie sich eingestehen muss, dass es mit dem Spiel nur solange getan ist, bis die blutige Wirklichkeit auch ihr Schicksal besiegelt: zwischen Fatalismus, Wut und einer tiefen Traurigkeit, die noch das letzte Bild überschattet, während der „strahlende“, d.h.: präpotente Dritte im Bunde, also Escamillo (Sangmin Lee macht ihn kernig, stimmstark, eindeutig „männlich“), mit der Trophäe eines riesigen Stierkopfs am Ende über den Opfern der amour fatal wie ein Denkmal seiner selbst im Glanz des Bluts in der Arena die Tragödie beschließt, die im Grunde keine ist.

Wir sahen der Heldin nur bei dem Versuch zu, in einer lieblosen Gesellschaft aus Sex und Geld, die das Ausleben ihrer Triebe schon für ein Zeichen der besungenen „Liberté“ hielt, innerhalb ihrer pragmatischen Aktionen so etwas wie Würde zu bewahren – doch auch ihr wird am Ende, wie dem brutalen Polizeichef Zuniga, fast buchstäblich der Hals umgedreht. Ob sie Don José einmal wirklich „liebte“? Ob sie im BH ehrlicher war als in der Lederjacke? Die Frage gebt verloren.

Der Rest ist eh der Beifall des Publikums, der zumal von den Sängern dieser bildstarken und musikalisch erfüllten Produktion begeistert war.

Frank Piontek, 3.10. 2021

Fotos: ©Bettina Stöß