Premiere: 10.7. 2021
Vor einigen Jahren konnte man in einer nordoberfränkischen Tageszeitung anlässlich einer Rezension eines Werther-Balletts die Behauptung lesen, dass „Liebe“ nicht getanzt werden könne. Die Meinung der Rezensentin war ungefähr so sinnvoll wie die Aussage, dass man „Liebe“ mit Worten wiederzugeben vermag. Natürlich kann man „Liebe“ tanzen, und dies schon deshalb, weil der Begriff so viele Bedeutungen, dass er nicht mit ein, zwei Schritten dargestellt werden kann. Ja: „Liebe“ kann schon deshalb eher getanzt als verbalisiert werden, weil sie eine Sache der Geste und des Ausdrucks und weniger einer Behauptung ist. Warum denn gibt es so viele Ballette und Tanztheater-Abende, in denen das, was wir gemeinhin unter „Liebe“ verstehen – getanzt wird?
Die Erinnerung an die Behauptung kommt wieder, als ich mir den ersten Teil des dreiteiligen Tanztheaterabends anschaue. Der Choreograph Marco Goecke hat mit Woke up blind eine Produktion vorgelegt, deren Bewegungsmuster nicht überraschend sind – zumindest nicht für den, der schon einige seiner Choreographien gesehen hat. Sie tanzen also wie Besessene, dabei sehr elegant und formbewusst, nutzen im Stehen den maximalen umgebenden Raum, lassen mit rasender Geschwindigkeit ihre Gliedmaßen wedeln, schieben und schaufeln: als wollten die Körper Maschinen werden. Das typische Zucken verstärkt sich, wenn die Gitarreneinsätze in Jeff Bickleys Rocksongs schroffer werden. Wir kennen das Bewegungsrepertoire des Choreographen, der behauptet, dass er während der Choreographie keine Emotionen bezüglich eben dieser Choreographie verspüre, schon von seiner Nürnberger Produktion Thin skin. Nun setzt er seine Arbeit mit einem Nachtstück fort, in das ein inneres Feuer fährt: „als ob sie“, heisst es im Programmheft, „von allen Seiten gleichzeitig entzündet würden“, was nicht heisst, dass die Abläufe in irgendeiner Art objektiv erklärbar wären. Schrieb ich 2019, dass die Ästhetik dieser Körpersprache auf die Dauer ermüdend sein und eine Kürze von 15 Minuten vollkommen ausreichen würde, um angesichts der technischen Exercises erfreut zu werden, endet Woke up blind tatsächlich nach einer Viertelstunde, doch gibt es einen Unterschied: diesmal bewegen die Begegnungen zwischen den zwei Tänzerinnen und den fünf Tänzern, weil zwischendurch tatsächlich (erotische) Begegnungen stattfinden – ganz abgesehen davon, dass im zweiten Teil in Form von roten Samthosen jene Farbe ins Spiel kommt, die wir im dritten Teil des Abends wiedersehen werden.
Sofie Vervaecke ist auch in Teil II präsent; als prima inter pares führt sie die 13 Tänzer an, die Bartóks 4. Streichquartett in einer Choreographie von Jacopo Godani – nein, nicht vertanzen, aber direkte Entsprechungen von Rhythmus und Einsätzen gibt es doch auch. Die fünf Sätze des Quartetts erlauben es, jeweils fünf verschiedene Gruppen-Kombinationen aufzustellen; auf das Ensemble folgt ein gleichgemischtes Quartett, auf das zwei Männer folgen, den Mittelsatz (No. 3) macht ein Quintett aus einem Quartett und einem Solisten, im vorletzten Satz treten alle Tänzer minus zwei auf die Bühne, und schließlich erleben wir die gesamte Truppe im Finale. Nach Goeckes Arbeit wirkt Godanis Metamorphers wie eine Übung in Langsamkeit, in der sich die Tänzer schlangengleich über die Bühne bewegen: zunächst vor einem relativ schmalen Raum-Licht-Streifen, dann auf der dunkleren Bühne – doch niemals so heftig wie in Goeckes Woke up blind, sondern mit Bewegungen, die eher zärtlich als brutal anmuten: selbst dann, wenn Bartòk gleichsam zur Sache geht. Vervaecke gibt scheinbar Zahlenkommandos an, aber sie vollführt auch mit Edward Nunes einen lyrischen pas de deux, den man nicht erklären muss. Für Godani ist Tanz um seiner selbst willen da, womit er nicht einmal den Standpunkt Goeckes vertreten mag, dass es beim Tanz um die Begegnung und die Erkenntnis des (Tänzer-)Körper geht. Metamorphers ist deshalb doch nicht autistisch, sondern betont publikumsfreundlich; der Beifall beweist es.
Während in der zweiten Pause Verdis „Va pensiero“ über den Platz klingt und die „goldenen Flügel“ ins Gedächtnis rufen, liest man im Programmheft den Text von Lennon/McCartneys Blackbird, in dem die „broken wings“ eine seltsam paradoxe Rolle spielen. Goyo Monteros Blitirí hat es zunächst weniger mit gebrochenen Flügeln als mit einer ungeheuren, in seinem Nürnberger Werk eher seltenen fröhlichen Vitalität zu tun. Die Choreographie scheint zuletzt einige der Themen zusammenzufassen und weiterzuführen, die bei Goecke und Godani verhandelt werden: die Bedeutung des Körpers und der Körper, die sich begegnen, die Farbe (und das Licht) im Dunkel der Bühne, das Verhältnis zum Publikum, das offensichtlich problematisch ist, weil es zwischen Zuneigung und Verstörung changiert. In der Mitte des 3. Teils, wenn Mozarts Gluck-Variationen verklungen sind, kommt es zu zaghaften und unsicheren Verbeugungen: der Beifall des Publikums ist echt, das Ritual, als gebrochenes, einstudiert. Was nach dem fröhlichen Kehraus der circensich und komödiantisch aufgefassten Variationen bleibt, ist ein Kampf. Hat sich Montero hier von Goecke inspirieren lassen? Goecke ließ einst seine Tänzer in Sweet Sweet Sweet inmitten eines schwarzen Meers aus 3500 Luftballons sich mit präpotenten Zittergesten bewegen. Blitirí (das Wort bedeutet ein Wort, das Nichts bzw. Unsinn anzeigt) endet mit einem gewaltigen, geräuschvollen, aggressiven Kampf mit schwarzen Ballons und Ballonfiguren. Der Rest ist nicht ein lustvolles gemeinsames Atmen (wie in den Gluck-Variationen), ist nicht der Versuch, mit der Hilfe seiner Freunde die Schwerkraft zu besiegen (ein schönes Bild: wenn Ana Tavares kurz nach oben fliegt), sondern, während wir PJ Harvey hören, der Klang zerknallender Luftballons. Er wollte, sagte Montero, mit dem Schlussstück der Trilogie etwas Zugängliches schaffen. Das ist ihm und der Compagnie zweifellos gelungen: auf jenem Niveau, das immer komplex ist und gleichzeitig immer etwas Neues enthält, auch wenn zum wiederholten Mal sein langjähriger Musikpartner Owen Belton dabei ist. Also Riesenbeifall für die Compagnie.
Frank Piontek, 11.7. 2021
Fotos: ©Jesús Vallinas.