Nürnberg: „Der Vetter aus Dingsda“

Premiere: 17.7. 2021. Besuchte Vorstellung: 28.7. 2021

Der strahlende Mond ist ein Lampion. Julia de Weert, die, wie eine andere Rusalka, nach ihrem Traumgeliebten schmachtet, ist ein Girlie von heute.

Mit Eduard Künnekes einzigem Langzeiterfolg, der Operette Der Vetter aus Dingsda, die just vor 100 Jahren im Berliner Theater am Nollendorfplatz uraufgeführt wurde, wo in den 80er Jahren ein anderes (Alb-)Traumstück eine Aufführungsserie erlebte – Brittens Sommernachtstraum – , hat das Nürnberger Opernhaus in kurzer Frist einen weiteren Erfolg auf dem Gebiet der Operette der 20er Jahre erringen können. Nach Paul Abrahams Märchen im Grand Hotel haben wir es bei Künnekes Opus mit einem durchaus anderen Werk zu tun. Beginnt der einstige Welterfolg wie eine Spieloper von Lortzing, sind wir bei „Onkel und Tante“ akustisch schon bald in jener Zeit angelangt, der das Werk seine Existenz verdankt, bevor Künnekes unverwechselbare Einsprengsel einer etwas älteren – und immer zauberhaften – Musik wiederkehren. Anders als das Nürnberger Märchen im Grand Hotel wird die Geschichte weniger vom Blatt, als von heute aus erzählt. Natürlich hat Vera Nemirova, als getreue Schülerin Peter Konwitschnys, sich nicht damit begnügt, eine mehr oder wenige brillante Inszenierung hinzulegen, die, bei aller Frische der Musik, das Historische des Sujets betont.

Bei ihr agieren alle Figuren aus einem Jetzt heraus, das ihre Emotionen verständlich macht – also ist die anfangs zitierte Julia eine junge Frau, die mit ihrem Traummann, den seit Jahren in Batavia lebenden Roderich, nur in Form von Selfies, in Chats und in Twitternachrichten kommuniziert. Nemirova hat den Vetter auf 90 Minuten eingedampft, was schon deshalb genügt, weil 1. die Musik vollumfänglich zum Einsatz kommt und 2. die Julia und ihr wahrer Roderich von Andromahi Raptis und Martin Platz gesungen und gespielt werden: sie als ansprechend artikulierender Sopran, der das rechte Zwitschern in der Stimme hat, das schon und gerade im Mondlied beglückend in den Zuschauersaal tönt, er als scheinbar ewig jugendlicher Luftikus, der das helle Tenorherz gleichsam auf der Zunge trägt. Erscheint sie ihm zunächst buchstäblich wie eine Fee des Smartphone-Zeitalters (die Blondhaarperücke fällt passgenau in jenem Moment, in dem er mit dem Lied vom Wandergesellen einen der „Schlager“ des Stücks anstimmt), lässt er sich auf das fröhliche Spiel mit der „Prinzessin Rührmichnichtan“ im selbstgebauten Glashaus ein – das Stück ist, alles in allem, eine Bildungsoperette: Julia oder der Weg zum wahren Ich und Anderen. „Kindchen, du musst nicht so schrecklich viel denken; küss mich, und alles ist gut“ klingt da plötzlich nicht wie ein typisch operettenhaftes Machospruch, sondern wie eine existentielle Aufforderung, sich von der medialen Fiktion weg- und einem wirklichen Partner zuzuwenden. Eignet dem Stoff auch jenes Operettenmärchenhafte, das die Librettisten schon in den Text brachten (und das in der neuen, sprachlich ins Heute gebrachten Fassung bewahrt blieb), wird der Konflikt doch ganz ernst genommen: wie eine Frau, in diesem Sinn eine Nachfolgerin der Elsa von Brabant, den „echten“ Namen ihres Geliebten erfahren will, um „sicher“ zu sein, dass sie am Ende eventuell den Falschen bekommt, obwohl sie mit Shakespeares Julia weiß (und rezitiert), was nicht in einem Namen ist. „Liebst du mich nur, wenn ich Roderich bin?“, fragt der Fremde mit dem seltsamen Namen August Kuhbrot. Die Inszenierung nimmt die Frage, was hinter der Frage steht, angemessen ernst, lässt neben der Lohengrin-Nähe auch den Tristan-Akkord erklingen, wenn die Überlegung ventiliert wird, wann denn Tristans und Isoldes Liebe, hätten sie sich gefunden, am Ende gewesen wäre. Spätestens dann, wenn Isolde gesagt hätte: „Tristan, bring den Mülleimer runter

Vor die Lösung des Konflikts hat der Operettengott den dramaturgisch seinerzeit ungewöhnlichen 3.-Akt-Auftritt, hier mit einer alte Schrottkarre, des „zweiten Fremden“ gelegt. John Pumphrey spielt den „echten“ Roderich, sein Hannchen ist die Paula Meisinger – das letzte Mal erlebte man sie in Nürnberg als Grisette in Massenets Manon, nun ist sie eine freche und stimmstarke wie charmante Variante des weiblichen Parts des „niederen Paars“, die keine Selfies machen muss, um ihren Instant-Geliebten für sich zu begeistern. Doch auch für Julia de Weert gibt es eine Rettung: Roderich schafft es tatsächlich, sie von ihrer Handysucht abzubringen – die Kürze des Abends zwingt dazu, die Botschaft schnell und vielleicht ein wenig zu plakativ an den Mann, mehr noch an die Frau zu bringen (aber als Videogroßbild ist Andromahi Raptis auch schauspielerisch-mimisch bezwingend).

Bleiben der geschädigte Dritte – Hans Kittelmann als Egon von Wildhagen – und die enttäuschten Erbschleicher namens Onkel und Tante. Hält Egon sich, in einem gewitzt inszenierten, mit diversen Stimm- und Lautimitationen und gymnastisch choreographierten Übungen der Beteiligten ausgestatteten Strand- und Meerbild, das die Sehnsucht nach Batavia koloristisch und parodistisch ausmalt, hinter der rhythmisch wackelnden Kulisse in gegenseitigem Vernehmen an der Tante schadlos, haben die Verwandten, durchaus „werktreu“, immer noch die Fresstafel für sich. Taras Konoshchenko und Franziska Kern haben zwischen Pizzakarton und Schweinekopf sichtlich Spaß auf und an derselben. So gelang ein temporeicher Abend, der – das ist so ein Konwitschny-Ding – mit Licht im Zuschauerraum und einer inszenierten Verbeugungstour endet, ganz nach dem Motto: Der Vorhang zu und alle Fragen (an die Zuschauer) offen. Man hätte es nicht gebraucht, aber nach dem starken Abend war‘s in Ordnung, denn der wurde zu wesentlichen Teilen von der Staatsphilharmonie unter Lutz de Veer getragen. Wie sie Künnekes quicklebendige, brillant instrumentierte, mit Anklängen an Humperdinks Hänsel und Gretel und gleichzeitig mit dem harmonischen und rhythmischen Standard der 20er Jahre angereicherte Partitur realisierten, war schon die glückliche Reise wert – aber das ist schon ein anderes Künneke-Stück.

Frank Piontek, 29.7. 2021

Fotos: ©Ludwig Olah