Premiere: 13.11. 2021. Besuchte Vorstellung: 10.12. 2021
„Im Herzen Afrikas und Indiens wirst du immer den Trovatore hören“ – Giuseppe Verdi sollte Recht behalten: Der Troubadour wurde zu seiner wohl beliebtesten Oper, und dies nicht obwohl, sondern vielleicht weil die Struktur dieses Werks so beschaffen ist, dass sie die deutschen Opernliebhaber und -forscher nachhaltig verwirrte. Denn keine andere Oper des größten italienischen Opernkomponisten stand lange Zeit unter dem Verdacht, zwar herrliche (oder, für die moralinsauren deutschen Opernprofessoren, leierkastenartige) Musik, doch gleichzeitig ein „unglaublich schlechtes“ Libretto zu besitzen. Tatsache ist: Das Libretto Salvatore Cammaranos und Giuseppe Verdis ist nicht besser und schlechter als das der anderen Meisterwerke Verdis, der schon früh darauf bedacht war, gute, also theaterwirksame Texte in die Hände zu bekommen (die Lektüre seiner diesbezüglichen Produktionsbriefe ist stets von Neuem ein Vergnügen). Sämtliche Informationen zum Verständnis der Handlung einschließlich der Vorgeschichte finden sich im Text selbst, und die Lücken, die zwischen den einzelnen Bildern klaffen und in denen sich wichtige Handlungsteile abspielen, sind jedem Menschen erschließbar, der in der Lage ist, den Text der Oper genau zu lesen. Wenn man freilich nur darauf erpicht ist, einer Musik zu misstrauen, die in ungeheurer Melodienfülle, dramatischer Gedrängtheit und varietà das Innen-Leben zu zeichnen vermag…
Glücklicherweise haben sich die Zeiten geändert. Nicht zuletzt durch einen wichtigen Aufsatz Götz Friedrichs (eines praktizierenden Regisseurs, keines bloßen Theoretikers) aus dem Jahre 1966 wissen wir inzwischen, dass der Troubadour in Verdis Gesamtschaffen eine ästhetische Besonderheit darstellt, die nicht zufällig, sondern mit Bedacht hergestellt wurde, indem der Komponist der Geschichte innerhalb eines besonderen dramaturgischen Rahmens eine spezifische, sehr düster gefärbte tinta musicale verlieh. Es brauchte indes ein wenig länger, eh man die Opernhändchen vom Theater vertrieb und anfing, den „Realismus“ dieses stets von Neuem packenden Werks in Szene zu setzen. Hans Neuenfels erobert sich 1974 die Opernbühne, als er in einer umstrittenen und berühmten Inszenierung bewies, dass sich die Bewegungen der Figuren nicht mehr in die herkömmlichen Schemata pressen lassen.
47 Jahre später ist es, am selben Ort, Peter Konwitschny, der einen typisch konwitschnyhaften Zugang zum Dramma lirico findet, wenn er auch die Inszenierung nicht selbst beenden konnte. Behauptet das Libretto mit seinen acht Szenen- und vier Doppelteilbildern eine tableauhafte, auf Schlaglichter setzende Handlung, bietet die neue Nürnberger Inszenierung eine Mischung aus Kontinuität und bewusstem Spiel, blutigem Ernst und theatralischer Lockerheit. Konkret: Beginnt das Spiel als ausdrückliches Puppentheaterspiel – womit der Zuschauer an Leo Karl Gerhartz‘ überzeugende Interpretation des Troubadour erinnert wird, derzufolge es sich bei der italienischen Oper dieser Epoche um eine Mischung aus Kasperle, Kirche und Kirmes handelt , so geht es allerspätestens dann zur Sache, wenn das Miniaturtheater auf dem Theater im Kampf um die Festung Castellor – und um Leonore – zusammenstürzt (was wieder für gute Auftrittsmöglichkeiten und beeindruckende Bilder sorgt). Wird zu Azucenas Erzählung eine Zigeunerin (eine grandiose Nürnberger Edel-Statistin, die endlich einmal auf dem Programmzettel genannt wird: Monika Schrödel-Hecht) verbrannt, fahren also die Flammen des Scheiterhaufens tatsächlich empor, sehen wir auf einen alten Theatertrick: das lodernde Feuer ist nichts weiter als ein im Wind sich bewegendes großes illuminiertes Tuch – Spiel und Wirklichkeit, Erinnerungen an die Historie und unschuldige Theaterrealität werden plötzlich eins.
Dem ideologisch besetzten Problem, heute keine Zigeuner mehr auf der Bühne darstellen zu dürfen, entkommt Konwitschny, indem es schlichtweg keine mehr gibt: die Chor-Compagnie ist (zunächst) die Soldateska, der militärische Teil eines Bürgerkriegs, dem sich auf Seiten Manricos schließlich eine Horde von Pistoleros zugesellt: als wär‘s ein Stück aus dem Wilden Westen. Der Amboss-Chor, dieses Prunkstück früherer Sonntagskonzerte, wird zum Fanal, nicht zur akustisch populären Schaunummer. Schaut man auf Timo Dentlers und Okarina Peters Kostüme, erblickt man eine Collage aus Risorgimento, spanischem Bürgerkrieg und Gegenwart.
Apropos Zigeuner: Die Sinti Allianz Deutschland dekretierte jüngst, also erst 2020, dass es „eine Zensur oder Ächtung des Begriffs Zigeuner, durch wen auch immer, nicht geben sollte und darf“. Nicht wenige Zigeuner akzeptieren diese Bezeichnung für sich selbst, vorausgesetzt, sie geschieht nicht in abwertendem Sinn. Insofern sind die Anführungszeichen bei der Nennung des Begriffs „Zigeuner“ in der Nacherzählung der Handlung im Programmheft das Zeichen einer politischen Korrektheit, die mal wieder alles besser machen will, aber die nötigen Differenzierungen so eliminiert wie die originalen Titel der vier Teile der Oper. Der zweite Teil – man muss das den Laien vermutlich erklären – heißt übrigens La Gitana, d.h. wörtlich (und ohne Gänsefüßchen) Die Zigeunerin. Im neuen Trovatore ist die Hauptfigur der Oper, also Azucena, eine Schwarze (Sängerin) – damit Angehörige einer nach wie in diversen Ländern diskriminierten Ethnie – die mit ihrer Stimme, aber auch schauspielerisch eine hinreißende Figur zum Leben erweckt. Als Außenseiterin mag sie, begreift man es im Lichte aktueller Rassenproteste, schon deshalb rollendeckend sein, aber dafür spricht wesentlich mehr. Denn Raehann Bryce-Davis verfügt nicht allein über eine breit ausschwingende, noble Höhe, sondern auch über eine emotional erregende Tiefe, die den Hörer an schwarze Gospel-Stimmen denken lässt. Damit, und mit ihrer bewegenden Darstellung einer zutiefst gespaltenen, weil zwischen Mutterliebe und Feindeshass changierenden Frau, erobert sie sich die Herzen der Zuschauer. Grandios ihr abschätziger Blick auf die sterbende Leonora (das herzbewegende „Ai nostri monti“ klingt plötzlich wie eine gemeine Provokation), hinreißend ihre Verzweiflung in der Erinnerung an die traumatisierenden Erlebnisse. Schon Bryce-Davis ist den Besuch der Produktion wert.
Der Schluss, mit Azucena, Manrico, Leonora und dem Conte Luna, ist übrigens nicht irgendeine Form von organisiertem Bühnenwirrnis, sondern eine Folge von sachlichen Abgängen, angeblich „nachts um zwei auf einem Bahnhof“. Es bleibt zurück: der Graf, der nach der Mitteilung, dass er gerade seinen Bruder hinrichten ließ, in helles Lachen ausbricht. Im Programmheft heißt es schließlich: „Der Graf wird irrsinnig.“ Allein dies ist schon eine Interpretation, die sich aus der Inszenierung selbst nicht erschließt, denn Graf Luna könnte ja auch deshalb zu lachen beginnen, weil er die Aussage Azucenas für die Worte einer Verrückten hält – soviel zum Problem von dramaturgischer Vorgabe und der Freiheit des Zuschauers, selbst über ein Stück nachzudenken, in dem sich Symbolismus und handfeste Handlung, Abstraktion und konkrete Gestik beständig kreuzen.
Steht Bryce-Davies nicht auf der Bühne, können wir uns an Emily Newton erfreuen. Ihre Leonora, ein empfindsamer Sopran, der Verdis Erinnerungen an den feinsinnigsten Belcanto bewahrt, ist eine femme fragile, die Manns genug ist, um im Krieg die Knarre in die Hand zu nehmen. Graf Luna hat mit Sangmin Lee zum einen eine elegante Erscheinung – der Dandy mit Spazierstock -, zum anderen eine höchst potente stimmliche Erscheinung bekommen. Er spielt den brutalen Lüstling, dem Verdi eine, dank Bassklarinettenbegleitung, vielleicht absichtlich schillernde wie glatte Liebesarie gewidmet hat, mit Verve und großer stimmlicher Delikatesse. Tadeusz Szenklier wurde als indisponiert angekündigt, was nicht heißt, dass er nicht so laut wie immer sang, aber genauere Mitteilungen sind diesmal kaum möglich; dass er die beiden von Verdi nicht notierten, aber tolerierten hohen Cs in „Di quella pira“ nicht sang, muss nicht unbedingt auf die vokale Einschränkung zurückgeführt werden. Wenn Nicolai Karnolsky den Ferrando singt, der im ersten Bild seine Version der Vorgeschichte zum Besten gibt, fängt der Abend schon einmal gut an – und wenn der vom Chormeister Konwitschny inszenierte und von Tarmo Vaask einstudierte Chor des Staatstheaters zusammen mit einem Extrachor auf der Bühne steht, weiß man diese bedeutende Choroper in den besten Händen: fantastisch, was dieses Ensemble in den Chorpartien stets dynamisch und artikulatorisch leistet. Nicht zuletzt muss die Staatsphilharmonie Nürnberg gelobt werden, die unter Lutz de Veer einen handfesten, im besten Sinne flotten, also ganz und gar theateraffinen Trovatore bietet, der in keiner Sekunde schleppt, aber Zeit genug hat, um die instrumentalen Subtilitäten, die dunklen Töne (die Holzbläser!), das brio und die dramatische Kraft in den Zuschauerraum dringen zu lassen.
Mit einem Wort: ein löwenstarker Abend.
Frank Piontek, 12.12. 2021
Fotos: ©Bettina Stoess (Bild 5 zeigt nicht die erwähnte Darstellerin der Azucena, sondern Dalia Schaechter)