Premiere: 21.12. 2019. Besuchte Vorstellung: 11.1. 2020
Es ist paradox: immer wieder darauf hinzuweisen, dass sich Goyo Monteros Arbeiten immer wieder unterscheiden, obwohl die Handschrift des Choreographen deutlich sichtbar ist. Liegt es daran, dass er zwar einige Grundthemen bearbeitet, aber über ein unerschöpfliches szenisches Repertoire zu verfügen scheint? Denn die Arbeiten des Nürnberger Choreographen sind szenische, nicht allein tänzerische Ereignisse. Im unmittelbaren Vergleich zur Arbeit, die den zweiteiligen Strawinsky-Abend eröffnet, wird der Unterschied zwischen einem guten und einem herausragenden Choreographen offensichtlich: setzt Douglas Lee in seiner Interpretation des „Petruschka“ – bei allen Abstraktionen im fast leeren Raum – auf die Wiedererkennbarkeit der Vierergeschichte zwischen dem Magier, Petruschka, der von ihm vergeblich verehrten Ballerina und dem Mohren, so geht Montero bei seiner Version des „Sacre du printemps“ in den Kern der Handlung hinein, um der bekanntlich extrem impulsiven und energetischen Musik gerecht zu werden: „Alle Impulse“, sagt er, „kommen vom Körper. Es gibt keine darübergelegte Ästhetik. Es gibt schon choreographische Linien und Definitionen, aber es funktioniert eher wie Energiewellen.“
Und also inszeniert er, zusammen mit Eva Adler (Bühne) und Karl Wiedemann (Licht), von Neuem eine Geschichte, in der es um das „Opfer“ und das Individuum geht, das sich gegen die „Gruppe“ zur Wehr zu setzen hat – ohne dass die Mitglieder der Compagnie zu austauschbaren Teilchen einer amorphen Masse werden würden; dies verhindert schon die Individualität jeder Bewegung. Kein Wunder, dass manchen Zuschauern der relativ brave „Petruschka“ besser gefiel und etliche Besucher diesmal dem grandiosen, sich auch grandios verausgabenden Ensemble den Applaus verweigerten: weil diese Arbeit Strawinskys Musik und der ursprünglichen Handlung außerordentlich nahe ist. Es ist amüsant, zu sehen, dass ein Stück, das vor 107 Jahren einen ungeheuren Skandal machte, auch heute noch auf Ablehnung zu stoßen vermag, wenn es in der choreographischen Annäherung an die Gegenwart schlicht und einfach Ernst genommen wird. Wo es aber ans Eingemachte geht und die Mitglieder der Compagnie in zwei aggressiven und verzweifelten Durchgängen durch jeweils ein Gruppenmitglied den Versuch unternehmen, durch ihren Tanz einen gigantischen Lichtring (ein neues System mit 40 „moving lights“, die einzelne Figuren verfolgen können) in Richtung Bühnenboden zu bringen, auf dass die Gruppe schließlich in irgendeine Zukunft springen kann, die vielleicht weniger verzweifelt ist als die gegenwärtige: wo die Gruppe also buchstäblich um ihr (Über)-Leben kämpft und Strawinskys Musik so klingt, als habe der Maestro sie für die Nürnberger Compagnie komponiert, muss man schon ziemlich abgebrüht sein, um die Gegenwärtigkeit des „Sacre“ zu ignorieren.
Großartig also, wie zunächst Daniel Roces als „Auserwählter“ vergeblich agiert, um schließlich von der frustrierten Truppe ermordet zu werden. Bewegend, wie Kate Gee als „Auserwählte“ den leblosen Körper des Mannes umschlingt, und spannend, wie sie endlich die Mitglieder dieser Not-Gemeinschaft zu Paaren treibt, weil sie begriffen hat, dass „es“ nur zusammen geht. Nein, Monteros Choreographie – kraftvoll wie immer – ist nicht „schön“. Sie ist „nur“ packend, relevant und bar allen Ästhetizismus: so wie Strawinskys denkbar unterschiedliche Partituren, die von der Staatsphilharmonie Nürnberg unter Björn Huestaege zum Vergnügen der Zuschauer gebracht werden. Der Komponist meinte übrigens einmal, dass seine Partituren nicht interpretiert, sondern nur so gespielt werden müssten, wie er sie notiert habe. Mag sein, dass das geht (es geht nicht), aber ein Ballett, das 1913 uraufgeführt wurde, muss neugedeutet werden. Es sei denn, man schaut sich, was immer faszinierend ist, die Rekonstruktionen der Ballettproduktionen der „Ballet russes“ an, die die seinerzeit vielbeachteten und umstrittenen Ballette kreierten.
Nicht, dass sich Douglas Lees „Petruschka“ in der Nacherzählung eines historischen Ballettes erschöpfen würde. Im Gegenteil: die Tänzer haben, bis auf einige zarte Andeutungen des Kostüms wenig Konkretes an sich. Petruschka trägt Kragen, und es gibt sogar den Bären, wenn auch mit um 180 Graf verdrehtem Kopf. Der Zylinderhut des Magiers erinnert sympathischerweise daran, dass Strawinsky mit der Uraufführungschoreographie Michel Fokines unzufrieden war, denn er stellte sich den Magier als einen Mann im Frack des 19. Jahrhunderts, nicht als Metropoliten vor – im Programmheft der Produktion wird mehrmals an E.T.A. Hoffmann und dessen Idee des „Automaten“ und einer „dunklen Macht“ erinnert, die „einen Faden in unser Inneres legt, woran sie uns dann festpackt und fortzieht auf einem gefahrvollen verderblichen Wege“.
Lees Protagonisten – Nicolás Alcázar als Petruschka, Yeonjae Jeong als Ballerina, Lucas Axel als Mohr und Edward Nunes als Magier – scheinen, mehr oder weniger (denn der Mohr ist mehr Spielmacher als Petruschka), die Körper und Köpfe der Mitspieler zu packen und zu ziehen, während sich das Ensemble im fast leeren Raum an zwei langen, mit Lichträndern versehenen Schiebetischen und vor einem rückseitigen schwarzen Theatervorhang in eleganten Gruppenbildern ergibt, bevor wir in den letzten Sekunden die Tänzer, wie abgelegt, an der Rückwand ruhen sehen. Ist es ein Zufall, dass Lee 2014 am Nürnberger Haus ein Ballett mit dem Titel „Doll Songs“ choreographierte?
Der Unterschied zu Monteros Arbeit, der aufgrund der Abfolge der beiden Stücke unausweichlich festgestellt werden muss, liegt nicht nur in der Grundfarbe begründet: hier blutiges Rot, dort Lila. Der Hauptunterschied besteht in der Haltung des Choreographen zu seinen Figuren, was weniger mit tänzerischer Qualität als mit dem Grad der Versenkung in eben diese Figuren zu tun hat. Ist der Zuschauer bei „Petruschka“ in der Lage, einem hochästhetischen Schauspiel mit Tänzern, die ihre Rollen von außen spielen, distanziert und wenig bewegt zuzuschauen, so sieht er bei Montero vom ersten Moment an eine Geschichte, deren Gewalt und Dringlichkeit er sich gerade dann nicht zu verschließen vermag, wenn er es vorzieht, diese „Sacre“-Interpretation einfach furchtbar zu finden; die Abwehr ist hier sozusagen das Anzeichen für einen inneren Widerstand, der weniger mit Kunst als mit Weltanschauung zu tun hat. Was jedoch, nebenbei, schon der rein körperlichen Leistung der hochtrainierten tanzenden Künstler absolut nicht gerecht wird. Ansonsten: der übliche verdiente große Beifall für Monteros Compagnie.
Frank Piontek, 12.1. 2020
Fotos: © Jesús Vallinas