Nürnberg: „Die Italienerin in Algier“

Premiere: 21.1. 2017., besuchte Vorstellung: 24.11. 2019

Seltsam: Da werden hintereinander zwei Opern gespielt, die beide – freilich im Abstand von 150 Jahren – in Venedig uraufgeführt werden, und in denen es beide Male um die seltsamen Beziehungen eines alten Mannes zu einer jungen Frau geht, die er begehrt. Nur, dass in Rossinis Meisterwerk, im Gegensatz zu Cavallis „La Calisto“, die Geschichte zwischen den Geschlechtern ein wenig anders endet, weil es die Italienerin, die es nach Algier verschlagen hat, mit dem geilen Sack aufnehmen kann, obwohl er ihr hierarchisch übergeordnet ist. Ein Mustafà ist eben, so betrachtet, mehr als eine Frau – aber eine kluge Italienerin ist einem Mann, so die theaterwirksame Botschaft, immer überlegen; mögen die anderen die Sexarbeit machen.

„Die Italienerin in Algier“ hat im Januar 2017 ihre Nürnberger Premiere erlebt, die der Autor dieser Zeilen als „tollen Abend“ bezeichnet hat. Der Abend ist immer noch toll, weil Laura Scozzi ihn damals in Szene gesetzt hat. Nun aber stehen einige andere Sänger auf die Bühne, die den Blick auf die Figuen ein wenig verändern, denn ist ist durchaus ein nicht allein vokaler Unterschied, ob Marcell Bakonyi oder Taras Konoschenko den Mustafà singt. Damals war der geile Hahn mit seiner Jugendlichkeit und seiner Körpergröße von 1,90 und seinem Bariton eher ein moderner Casanova, während Konoshchenkos algerischer Tyrann eher dem Typus des altbackenen Diktators entspricht, der freilich durch sein Volumen auch ein gehöriges Gran Tapsigkeit in die Rolle bringt. Volumen: der Begriff darf auch auf die Stimme bezogen werden, dessen Bass wirklich ein Bass, kein tiefgelegter Bariton ist. Also Bravo für diese Rolleninterpretation, die nur in einer Szene, rein stimmlich betrachtet, etwas leidet. Es ist eben ein wenig schwierig, einen in ein Bett fixierten Bass zu hören, der gerade damit beschäftigt ist, mehrere luftig bekleidete Damen von sich abzuwehren, die seine einstigen GV-Bewegungen, über und vor allem vor ihm sitzend, provokant imitieren.

Isabella war damals Ida Aldrian, nun sehen wir Almerija Delic bei der Arbeit. Diese Italienerin ist eine pure Powerfrau, die keine Sekunde daran zweifeln lässt, dass ihr die Kerle haushoch unterlegen sind und dass sie sich den greift, den sie haben will. Das Wunderbare aber liegt nicht nur in der Vitalität dieser Darstellung. Es liegt auch in der Stimme, denn Almerija Delics Isabella lacht und wütet so vokal, dass es eine Freude ist. Sie spielt gleichsam mit allen Sinnen, indem sie mit feinsten Mitteln ein körperliches und akustisches, dabei doch nicht derbes Vollweib auf die Bühne bringt. Voilà: eine ideale Interpretation – und ein kleines Wunder, dass sie nach der vorabendlichen Diana in Cavallis „Callisto“, gewiss keiner Nebenrolle, zu einer derart energischen wie witzigen Gestaltung fand.

Martin Platz ist auch an diesem Abend dabei; wieder ist er der Lindoro, und er ist wieder – es mag an seiner vorabendlichen Linfea liegen – in den höchsten Höhen seines empfindsam-eleganten lyrischen Tenors nicht ganz so rein, wie man es sich wünschen würde, aber man soll nicht beckmessern: er spielt und singt die dankbare Partie zum größten Vergnügen des Publikums. Den Taddeo singt diesmal Michael Fischer: im besten Sinn verlässlich, wie man so sagt, und war damals Inka Yoshikawa die Elvira, so darf nun Nayun Lea Kim, ein Mitglied des Opernstudios Nürnberg, die kleine Partie singen, die doch über einen unüberhörbaren – und unüberhörbar herrlichen – Spitzenton verfügt. Innerhalb des ersten Finales, in dem sich die Raserei in der berühmten Rossinischen Walze austobt und in der die Sänger nur eine Pflicht haben: auf den Dirigenten zu achten (weshalb sie die Regisseurin auch klugerweise statisch stehen lässt), innerhalb dieses wahnsinnigen Schlusses darf Nayun Lea Kim ihre Stimme über dem Ensemble schwingen lassen – und auch das macht sie gut.

Keine Aufführungskritik der „Italienerin“ aber wäre vollständig, würde man nicht den Chor erwähnen, der in diesem Prachtstück von musikalischer Komödie von der ersten bis zur letzten Szene auf der Bühne steht. Der Nürnberger Opernchor ist wieder exzellent, und dies nicht nur, weil er auf der Szene gelegentlich von der Frau oder dem Mann „dirigiert“ wird, die sich als höchst seltsames Paar den ganzen Abend über lustvoll, blutig und sehr sehr komisch bekriegen und während des statischen Ensembles des ersten Finales für jene Bewegung sorgen, die ansonsten fehlen würde; die Regie hat das schon sehr klug angelegt. Pawel Duduś darf nun, zum allergrößten Vergnügen des Publikums, zusammen und gegen Tyshea Lashaune Suggs antreten, wobei ich davon ausgehe, dass nicht nur die Männer mit angeregterem Interesse auf die Nackttänzerin Tanja Brunner geschaut haben: mit gutem Gewissen angesichts dieser paradoxerweise höchst lust- und kunstvollen Ausstellung des sex- und geldbetonten Verhältnisses zwischen Mann und Frau.

Ein Fortschritt (?): Calistos Jupiter hätte für diese Nacktshow vermutlich keine Drachme lockergemacht.

Frank Piontek, 25.11. 2019

Fotos: ©Ludwig Olah