In der Pause aber gehen schon einige Besucher. War ihnen die Chose zu wild? Fanden sie die Groẞherzogin zu aufgekratzt, den General zu blödsinnig, den Chor zu dumm, die Liebhaber zu lächerlich? War ihnen – horribile dictu! – die Musik des genialen „Mozarts der Champs Elysée“ zu trivial? Es bleibt wieder mal ein Rätsel.
Halten wir fest, dass eine Operette, noch dazu eine von Offenbach, alle Lizenz zum Blödsinnmachen besitzt. Wer lesen kann, ist klar im Vorteil. Das Programmheft zitiert Karl Kraus, der ja nun wirklich einer der klügsten Geister seiner Zeit und ein großer Offenbach-Liebhaber und -Propagandist, zugleich einer der größten Hasser der neueren Wiener Operette war. Die Operette nehme „eine Welt als gegeben an, in der sich der Unsinn von selbst versteht und in der er nie die Reaktion der Vernunft herausfordert“. Oder, wie es Hans Mayer mal in einem kleinen, schönen Programmheftbeitrag zu einer Sylvesterpremiere der „Herzogin von Gerolstein“ auf den satirischen Punkt brachte: Nur „eine bewusst unernste Kunst, diejenige der Operette nämlich“, könne „einer unangemessenen Wirklichkeit angemessen sein.“ Und er kam, das ist lange her, zum Schluss: „Eine operettenhafte Wirklichkeit erblickt ihr eigenes Bild in der Operettenwirklichkeit“ – was im Fall der Nürnberger Operettenflüchtlinge vielleicht darauf hinauslief, dass sie ihr Spiegelbild nicht ertrugen.
Was ist das für ein Spiegelbild? Es ist eines der grellen Überhöhung, der bizarren Verzerrung, der slapstickhaften Komik. Sie macht selbst – aber auch das könnte, müsste nur ein Schein sein, wo Parodie der Wirklichkeit und die Wirklichkeit (des Lebens und des Theaters) nur eins sind – vor den authentischen Gefühlen der „kleinen Leute“ nicht Halt. Wer immer nur meint, dass Offenbach seine Figuren nur mit „Witz“ (gewiss: den gibt‘s bei diesem Großmeister des musikalischen Humors in Fülle) ausgestattet habe, kennt schon die „Großherzogin“ nicht. Fritz und Wanda, der einfache Soldat und seine Liebste, haben da nämlich zu Beginn ein Duett, bei dem einem das Herz aufgehen könnte. Auch das ist typischer Offenbach: in der Leichtigkeit eines Dreiviertel-Takts erfüllen sich Sehnsucht und zärtliche Zuneigung. In der bejubelten und zurecht belachten Nürnberger Inszenierung von Andreas Kriegenburg, dem Spezialisten für ausgezirkelte Szenenbewegungen und choreographische Detailarbeiten, sehen Fritz und Wanda nun nicht anders aus als all die anderen. Mit Ausnahme der Herzogin und zweier Externer, einem offensichtlich aus fremdem Lande stammenden Prinz Paul und einem holländischen Diplomaten, tragen alle Protagonisten ausnahmslos Grau unter schwarzer Topfperücke (die Kostüme wurden von Andrea Schraad entworfen, die Perücken, bei denen man nicht an Mireille Mathieu denken sollte, sind Meisterwerke der Perückenabteilung); dies Letztere allein verbindet die Gerolsteiner mit ihrer Fürstin. So ragt die Frau aus dem Ensemble herrlich heraus, wie sie ja auch, anders als die höfischen Schranzen, der selbstgefällige General Bumm, der Haushofmeister Puck und der Flügeladjutant Nepomuk, eine Eigenständigkeit besitzt, die sie zurecht zur Titelfigur macht. Trotz aller ihrer amoralischen (Operette!) Taten verbleibt nur sie im Bereich des Unverfälschten. Eleonore Marguerre spielt und singt diese flotte Frau mit frechem Witz und exaltierter Pose, mit einem weißen Hosenanzug (Gala-Auftritt 1) und weit gespanntem rotem Kleid (Gala-Auftritt 2). Der Grat zwischen Ironie und zarter Emphase ist hier hauchzart. Die Regie entscheidet sich eher fürs Überdrehte; schön ist ja schon, dass die arme Verzweifelte auch mal mit der Geige und dem Trompeter ins Gespräch kommt: ob sie nicht Lust hätten… Im Übrigen weiß man ja, dass am Ende einer Offenbach-Operette eh alles gut wird und die Partner zueinander finden, die getreu dem Motto „Wenn man nicht bekommt, was man liebt, muss man lieben, was man bekommt“ zusammenfinden. Und Fritz, der Archivsoldat, und Wanda, die Archivsoldatin, kommen natürlich zusammen. Nb: Dass Nikolaus Harnoncourt sich nicht zu schade, war einige Offenbach-Operetten zu dirigieren, sagt nicht allein etwas über Offenbachs Genie. Es sagt auch einiges über seine Menschlichkeit, die durch alle Parodie, auch der Figuren einer „Grand Opéra“ der Meyerbeer-Zeit, hindurchstrahlt (daher Harnoncourt auch nie einen Takt Rossini dirigierte).
Archivsoldat? „Die Herzogin von Gerolstein“ spielt in einem – natürlich lächerlich gemachten – Krieg. Nach dem Überfall der russischen Armee auf die Ukraine beschloss man konzeptionell umzuswitschen und aus den realen Soldaten graue Kellermäuse zu machen, die das Gerolsteinsche Archiv zu verwalten haben. Der Hinweis auf die „Gefallenen“, deren Daten hier verarbeitet und gelagert werden, musste genügen, und so agiert der Chor nun militärgleich im Einheitsraum, den Harald Thor in Nürnberg auf die Bühne stellen ließ. Dem „Fluch des Einheitsbühnenbilds“ (Friedrich Dieckmann) entgeht man, indem der zentrale Turm drehbar ist und weitere Spielmöglichkeiten im ersten Stock offeriert und die seitlichen Rohrpost- und Telefonistenstationen entfernt werden können. Wer im Theater keinen „Realismus“ erwartet, wird reich belohnt, denn die Mäuse tanzen bis ins letzte Glied, wie gesagt, choreographisch präzis und zackig.
Wir werden Zeugen eines schnellen Theaters, das sich nicht auf den Pointen ausruht, die ihm die deutsche Bearbeitung beschwert hat. Pius Maria Cüppers, der einzige Mann in Grau, der so gut wie nichts zu singen hat, darf zu Beginn die Belegschaft zum Wochenanfang mit einer so langen wie wirren Rede einschwören. Der Rest ist zu kleinsten Teilen mehrsprachig: Mats Roolvink spielt den Baron Grog als kanarienorangenen Schönling mit Liszt-Perücke und darf in ein paar wohlgewählten niederländischen Sätzen sagen, dass er schon verheiratet sei; Pech für die liebestolle Großherzogin. Sergei Nikolaev ist der knallgelbe, lächerliche Außerirdische, der am Ende doch seine Angebetete bekommt. Haupt der Kamarilla am großherzoglichen Hof ist der absurde General Bumm; Hans Gröning spielt ihn, der Idee des Regisseurs gehorchend, mit grandiosen Übertreibungen – wo wie Michael Fischer den Haushofmeister Baron Puck. Eine Typenparade eben.
Dass auch Franz und Wanda, also die „Guten“, nicht anders als zappelig und bewegungsmäßig bis zum kleinsten Finger präzis über die Bühne laufen, mag auf den ersten Blick befremden. Tatsächlich tragen Martin Platz und Chloe Morgan (mit einer US-amerikanischen Einlage im Stil einer screwball-comedy) wesentlich zum Spaß dieses Abends bei, der mit einer reinen Spieldauer von kann drei Stunden schon deshalb nicht zu lang ist, weil sich in diesem Meisterstück Offenbachs vom Liebesduett über die Auftrittsnummern des Generals Bumm und der Großherzogin zu den großen Chornummern und dem Lied vom Urahnsäbel Ohrwurm an Ohrwurm reiht. Kein Wunder, dass schon die im Publikum sitzenden Herr- und Frauschaften im Jahre 1867 begeistert waren, als sie sich derart brillant veräppelt sahen; in Nürnberg findet die Premiere einen Tag nach dem Nockherberg statt, in dem ja auch den anwesenden Verspotteten jene Verzeihung durch Komik gewährt wird, die eine Operette von Offenbach von einem naturalistischen Drama unterscheidet.
Tempo, Witz und Charme, schräge Komik und Rhythmen, die unweigerlich in die Beine fahren: das sind die Ingredienzien der Nürnberger Neuinszenierung, die wesentlich glückhafter ist als die letzte, vor etwa 20 Jahren, die gleich nach der Premiere abgesetzt wurde. Das Orchester des Staatstheaters unter Lutz de Veer (mit guten Solisten wie der Oboe) und der wie immer auch im Szenischen glänzende Chor unter Tarmo Vaask wissen, wie man den Offenbach in einer Mischfassung des Werks einschliesslich des Hochzeitschors in die Gegenwart zu bringen hat. Also riesiger Beifall für eine pfiffige Neuinszenierung, die sich nicht ernster nimmt als Offenbach, Meilhac und Halévy ihre Figuren – und begreifbar macht, warum sie immer noch mit uns selbst zu tun haben könnten.
Frank Piontek, 7. März 2023
Die Großherzogin von Gerolstein
Jacques Offenbach
Nürnberg
Besuchte Premiere am 4. März 2023
Inszenierung: Andreas Kriegenburg
Bühnenbild: Harald Thor
Musikalische Leitung: Lutz de Veer
Chor und Orchester des Staatstheaters Nürnberg