Wiesbaden: „Don Giovanni“

Bericht von der Premiere am 17. Juni 2018

Konsequent durchgearbeiteter Trash

Konrad Junghänels Mozart-Zyklus am Staatstheater Wiesbaden biegt allmählich in die Zielgerade ein. In der kommenden Saison wird er ihn noch mit einem Doppelschlag zu „Idomeneo“ und „La Clemenza di Tito“ vollenden. Nun hat er sich zum Abschluß der laufenden Spielzeit der „Oper aller Opern“ (laut E. T. A. Hoffmann) zugewandt. Eigentlich ist das ein „Chef-Stück“, also eines, welches sich üblicher Weise die Generalmusikdirektoren vorbehalten. Der Wiesbadener Orchesterchef Patrick Lange saß aber in der Premiere brav im Zuschauerraum und konnte sich anhören, wie sein Kollege das Wiesbadener Staatsorchester auf eine historisch informierte Spielweise eingeschworen hat, die kaum hinter dem Standard von Spezialensembles zurücksteht. Was zu Beginn der Intendanz von Uwe Eric Laufenberg bei „Cosi fan tutte“ noch experimentell angemutet hatte, dann in der wiederaufgenommenen „Nozze di Figaro“ gefestigt wurde und in einer großartigen „Zauberflöte“ einen vorläufigen Höhepunkt gefunden hatte, wirkt nun geradezu selbstverständlich: vibratoarmer Streicherklang, unsentimentale, klar geführte Holzbläser und knackige Paukentöne mit harten Schlegeln, dabei zügige Tempi und eine sprechende Phrasierung. Diesen Klang hat der Dirigent für den „Don Giovanni“ noch angeschärft und eingedunkelt. Geradezu hart und unerbittlich läuft das Stück um einen unmoralischen Wüstling seinem Ende entgegen. Bei Mozarts „Dramma giocoso“ wird im Orchestergraben das „Dramma“ betont, während das Adjektiv „giocoso“ in den Hintergrund tritt.

Don Giovanni (Christopher Bolduc) und Leporello (Shavleg Armasi)

Das Bühnenbild von Raimund Bauer zeigt dazu in kaltes Licht getauchte Vorstadt-Einkaufszentrum-Architektur, deren Wände ganz aus scheußlichem, gelblich-grünem Kunststoff gefertigt sind. Von den beiden Stockwerken des Gebäudes ist der obere Teil fix, während das Erdgeschoß über die Drehbühne immer neue Raumeindrücke freigibt und so geschickt schnelle Szenenwechsel ermöglicht. Das Personal der Oper gehört dem Vorstadt-Prekariat hat. Es scheint ganz so, als hätte sich das Produktionsteam vorgenommen, einen besonders trashigen Ansatz lustvoll bis zur äußersten Konsequenz durchzuspielen. Regisseur Nicolas Brieger präsentiert dazu eine Fülle von Ideen, die man nicht alle mögen muß, die jedoch dafür sorgen, daß an diesem über drei Stunden langen Premierenabend keine Langeweile aufkommt. Brieger versteht sein Regiehandwerk und weiß ein spielfreudiges Ensemble überwiegend junger Sänger gut zu führen.

In der ersten Szene tritt Don Giovanni in der Maske des Komturs auf, welche er auch bei der angeblichen Vergewaltigung von dessen Tochter Donna Anna aufbehält. Zu sehen ist hier aber einvernehmlicher Sex, der durch die Maskierung als (gespielter) Inzest erscheint. Die anschließende Ermordung des Komturs erscheint mehr als ein Unfall: Bei einem Handgemenge mit einer Pistole löst sich versehentlich ein Schuß. Bei der berühmten Registerarie mit der Aufzählung von Don Giovannis weiblichen Eroberungen in allen europäischen Nationen präsentiert der Diener Leporello die auf seinem Körper dazu eintätowierten Frauennamen. Besonders zotig wirkt dabei, daß Leporello hinsichtlich der Anzahl der spanischen Liebschaften seines Meisters der entgeisterten Donna Elvira sein Gemächt vorzeigt (natürlich erst, nachdem er dem Publikum den Rücken zugedreht hat). Der Tätowierer muß die entsprechenden 1003 Namen („mille e tre“) dort wohl in Mikroschrift aufgebracht haben.

Katharina Konradi (Zerlina), Benjamin Russell (Masetto) und Ensemble

Als Zitat von Laufenbergs Kölner Inszenierung präsentiert Brieger eine Türkenhochzeit beim Paar Masetto-Zerlina, ohne dies allerdings mit der gleichen Konsequenz wie seinerzeit in Köln durchzuspielen. Drastisch wird die Schändung der Zerlina durch Don Giovanni als Entjungferung mit demonstrativ ausgestelltem Blutfleck im Schritt markiert. Leider wirkt das Setting des Maskenballs mit allzu edlen Rokokokostümen im Prekariatsmilieu deplatziert. Das läßt sich dann auch durch ein kollektives Sangria-Saufen mit langen Strohhalmen nicht wirklich umbiegen. Allerdings endet diese Szene mit einem Coup: Der als Verbrecher enttarnte Don Giovanni steckt zur Ermöglichung seiner Flucht das Gebäude mit einem Molotowcocktail in Brand.

Matt dagegen ist die Schlußpointe, die der Inszenierung nachträglich einen Deutungsrahmen geben soll. Statt zur Hölle zu fahren, reiht sich Don Giovanni in eine Schar von Tattergreisen mit Urinbeuteln und Gehstützen ein. Zusammen mit der im Laufe des Abends immer wieder auftauchenden Gesichtsmaske des Komturs soll das Stück so als vergeblicher Kampf gegen das Alter interpretiert werden. Einen verwandten Ansatz hat Christof Loy in seiner Inszenierung für die Oper Frankfurt wesentlich überzeugender durchgespielt. Bei Brieger in Wiesbaden wirkt dieses Ende seltsam aufgepfropft.

Gesungen und gespielt wird dabei ausgezeichnet. Die Besetzung profitiert von den vielen jungen Talenten, die Intendant Laufenberg an sein Haus gebunden hat. Christopher Bolduc zeigt in der Titelpartie seine bislang überzeugendste Leistung. Sein kerniger Bariton ist frisch und viril. Dabei verfügt er auch über eine ungefährdete Höhe, hat derbe Klangfarben im Umgang mit seinem Diener, Kälte und Zynismus für die verlassene Ehefrau. Er kann andererseits aber Zerlina sanft umschmeicheln (wunderbar im Duett „Là ci darem la mano“) und legt ein zartschmelzendes Ständchen hin. Eine ansprechende Leistung zeigt auch Shavleg Armasi als „Leporello“ mit kantigem, aber beweglichem Baß und diabolischer Spiellust. Katharina Konradi gelingt es mit ihrem angenehm schlackelosen Sopran bei perfekter Stimmführung die unterschätzte Rolle der „Zerlina“ deutlich aufzuwerten und erhält dafür am Ende verdienter Maßen großen Publikumszuspruch. Deutlich reifere, aber nicht unangemessene Töne sind von Netta Or als „Donna Anna“ zu hören. Als quirlig-resolutes Energiebündel erweist sich erneut die zierliche Heather Engebretson. Ihre helle und bewegliche Stimme erlaubt ihr eine mühelose Bewältigung der Koloraturen. Einzig für die tieferen Lagen fehlt es ihr an stimmlicher Substanz. Benjamin Russell überzeugt mit seinem schlanken und wohltönenden Bariton als „Masetto“, und Young Doo Park orgelt mit seinem bewährten schwarzen Baß einen überzeugenden „Komtur“. Ioan Hotea wirkt als "Don Ottavio" einmal mehr wie der kleine Bruder von Rolando Villazon (vor dessen Stimmkrise) mit saftigem Tenor und einer gewissen Neigung zu Überdruck und angeschluchzten Tönen.

Ioan Hotea (Don Ottavio) und Netta Or (Donna Anna)

Intelligent und stilsicher macht Tim Hawken am Hammerflügel auf sich aufmerksam. Er stützt nicht nur flexibel die Rezitative, sondern sorgt auch für kleine, anspielungsreiche Soloeinlagen, etwa wenn er das „Lacrimosa“ aus Mozarts Requiem anklingen läßt.

Das Publikum zeigt sich einhellig begeistert im Hinblick auf die musikalische Darbietung und gespalten mit teils deutlichen Unmutsbekundungen im Hinblick auf die Regie.

Weitere Vorstellungen gibt es am 27. und 29. Juni sowie gleich zu Beginn der kommenden Saison im September und Oktober.

Michael Demel, 23. Juni 2018

Copyright der Bilder: Karl und Monika Forster