Bremerhaven: „Der Vetter aus Dingsda“

Premiere am 31.01.2015 besuchte Aufführung: 04.02.2015

Roderich rutschen die Hosen

Es „vettert“ in den Theatern unserer Region. Drei Wochen nach einer vergnüglichen Produktion der Operette „Der Vetter aus Dingsda“ von Eduard Künneke in Oldenburg legte nun das Stadttheater Bremerhaven nach. Hier wie dort darf man sich der Zustimmung des Publikums gewiss sein. Denn die Geschichte bietet mit ihren vielen Verwicklungen und den skurrilen Charakteren genug Stoff für boulevardartige Komödie – wenn man die Möglichkeiten denn auch nutzt. Zur Erinnerung: Julia schwärmt seit Jahren für ihren Freund Roderich aus Kindertagen, der nach Batavia (nach „Dingsda“) ausgewandert ist und sie längst vergessen hat. Noch steht sie unter der Vormundschaft von Onkel Josse und Tante Wimpel, die sie mit ihrem Neffen August Kuhbrot verheiraten wollen, um den Zugriff auf Julias Vermögen zu sichern. Nach einigen Turbulenzen finden sich die richtigen Paare: Julias Freundin Hannchen und der echte Roderich sowie dann tatsächlich Julia und August, der sich vorher als Roderich ausgegeben hat. Und alle fallen sich in die Arme, sogar die beiden Diener. Nur der täppische Egon von Wildenhagen geht wieder leer aus.

Regisseur Ansgar Weigner, der in Bremerhaven vor einem Jahr eine herausragende „Gräfin Mariza“ inszeniert hatte, brachte für den „Vetter“ zwar durchaus viele Einfälle mit, aber so richtig zünden wollte der Funke nicht. Auch wenn manche Figuren wie Hannchen oder Onkel Josse an die Klim-Bim-Familie erinnerten. Zwar flogen keine Sahnetorten, aber Roderich rutschte die Hose herunter und gab den Blick auf seine geblümte Unterhose frei – ein Gag, der erstaunlicherweise immer noch Lacher auslöst. Bei einem hinzuerfundenen Opa, der wie ein Möbelstück in seinem Rollstuhl hin und her geschoben wurde, wartete man vergeblich auf die Pointe. Auch für das Dienerpaar (Leo Yeun-Ku Chu und Stefan Hahn) hätte man sich komischere Szenen vorstellen können. Und der Batavia-Fox wurde mit etwas gebremstem Übermut serviert, da war in Oldenburg mehr los.

Hübsch war die Szene, bei der die Diener zu Julias Arie eine Mondlaterne über den Orchestergraben hielten. Die Wortspielereien mit dem Namen Wildenhagen waren dafür eher flau. Allerdings hatte Regisseur Weigner einen sehr unter die Haut gehenden Einfall: Wenn der falsche Roderich alias August Kuhbrot entlarvt und fortgejagt wird, verdunkelt sich die Bühne und er singt „Fremd bin ich eingezogen“ aus Schuberts „Winterreise“. Ein wunderbarer Moment des Innehaltens, bei dem die Operettengefühle sich plötzlich in tiefe Emotionen verwandeln. Zudem sang Tenor Tobias Haaks dieses tieftraurige Lied über Einsamkeit mit berührender Schlichtheit. Überhaupt war Haaks für die Partie des Fremden eine stimmlich ausgezeichnete Besetzung; er servierte nicht nur den Hauptschlager „Ich bin nur ein armer Wandergesell“ mit fast italienischem Schmelz. Da war er seinem Oldenburger Kollegen etwas überlegen, auch wenn er darstellerisch im schweinchenrosa Anzug eher Teddybären-Charme ausstrahlte. Katja Bördner war als etwas überspannte Julia, die auch schon mal in Ohnmacht fällt, mit ihrem lyrischen Ausnahmesopran musikalisch ebenfalls ein Genuss. Den „Strahlenden Mond“ besang sie mit reinstem Wohlklang. Hannchen mit Brille und Pferdeschwanz, von Regine Sturm manchmal etwas spitz gesungen, brachte viel Temperament auf die Bühne, Thomas Burger als verklemmter Egon von Wildenhagen sorgte mit präsentem Tenorbuffo für dezente Komik. Filippo Bettoschi war der echte Roderich, der als Flieger buchstäblich vom Himmel fiel und Hannchen mit unwiderstehlichem Charme umgarnte. Oliver Weidinger war ein stets nach einem Schnitzel verlangender, zackiger Josse. Isabel Zeumer als Tante Wimpel war etwas gewöhnungsbedürftig – wie sie aber aus dem Klavier immer wieder geistige Getränke zauberte, hatte schon was.

In Oldenburg war das Orchester (zwar sehr gelungen) auf Kammerbesetzung reduziert, aber in Bremerhaven brachte das Philharmonische Orchester den vollen Künneke-Klang zur Geltung. Das war doch ein Gewinn, besonders wenn ein so versierter Operetten-Kenner wie Hartmut Brüsch am Pult steht, der die schmissige Musik in all ihren Facetten aufblätterte und der raffinierten Orchestrierung zu ihrem Recht verhalf.

Szenisch geht trotz des hellen Bühnenbilds (etwas heruntergekommener Speisesaal, dessen ehemaliger Glanz aber noch deutlich wurde) von Christian Floeren der Punkt nach Oldenburg, musikalisch eher nach Bremerhaven. Dennoch sollte man sich die Bremer Inszenierung aus dem Jahr 2010 (damals mit Steffi Lehmann und Karsten Küsters) ins Gedächtnis rufen. An die reichen beide Neuproduktionen nicht heran.

Wolfgang Denker, 5.2.2015

Fotos von Heiko Sandelmann