Bremerhaven: „La Boheme“

Premiere am 07.11.2015

Mitten ins Herz

Laut Libretto tummeln sich die vier Künstlerfreunde in Puccinis Oper „La Boheme“ in einer Dachmansarde. In einer Bremer Inszenierung von 2002 lebten sie im Erdgeschoss – und in Bremerhaven sind sie nun im Keller gelandet. Die Inszenierung von Oliver Klöter ist aber trotzdem ganz oben anzusiedeln, weil sie sehr sorgfältig und stimmig bis ins letzte Detail ausgearbeitet ist und weil sie den emotionalen Gehalt des Werks nicht konterkariert.

Klöters Regie war ein gutes Beispiel für lebendige, sinnvolle Personenführung, die aber trotz vieler witziger Einfälle nie aufdringlich wurde. Selten hat man die vier Freunde so natürlich und unverkrampft agieren sehen. Aber Klöter scheute sich nicht, dort, wo die Musik die großen Gefühle transportiert, ihr den Vortritt zu lassen. So wurde das Liebesduett des 1. Aktes einfach an der Rampe gesungen, weil die Musik schon alles ausdrückte. Aber gut durchdachte oder witzige Aktionen gab es genug. Die Episode mit dem Hauswirt Benoit (Clemens Gnad), der vergeblich versucht, die Miete einzutreiben, war sehr witzig. Köstlich war die Szene im letzten Akt, wo die Bohemiens sich unterhaken und ein paar gekonnte Ballettschritte riskieren. Dass Musetta beim Streit mit Marcello im 3. Akt deutlich beschwipst ist, war ein origineller Einfall. Bei ihrer Auftrittsarie vor dem Café Momus schoss er allerdings etwas über das Ziel hinaus: Wie Musetta ihren Marcello geradezu körperlich anging, war etwas zuviel des Guten. Gleichwohl traf diese „Boheme“-Inszenierung direkt ins Herz. In diesem Sinne hat Klöter, insbesondere auch bei dem emotional sehr berührenden Schluss, einen Volltreffer gelandet.

Daran hat auch die Ausstattung von Darko Petrovic ihren Anteil. Die halb hochgefahrene Bühne zeigte unten die Kellerräume, während oben einsame Passanten durch die Pariser Nacht eilten. Für die Massenszenen des 2. Aktes stand der gesamt Bühnenraum zur Verfügung und konnte sehr sinnvoll genutzt werden. Im 3. Akt schließlich fiel der Blick auf die nebelverhangene Stadtmauer, die in ihrer Trostlosigkeit der Abschiedsstimmung entsprach.

Musikalisch bot das Stadttheater ein Sängerfest. Wer sich allerdings auf Katja Bördner als Mimi gefreut hatte, wurde enttäuscht, weil sie krankheitshalber die Premiere absagen musste. Mit der israelischen Sopranistin Noa Danon von der Magdeburger Oper konnte jedoch ein hervorragender Ersatz gefunden werden. Sie hat verschiedene Preise gewonnen und diverse Meisterkurse besucht, u. a. bei Michèle Crider (die den Bremerhavenern von der Operngala 2004 bekannt ist). Ihre Mimi hatte großes Format. Mit mühelos aufstrahlendem Sopran zeichnete sie alle Empfindungen der Figur sehr differenziert nach. Als Rodolfo gastierte Kwonsoo Jeon, der das Publikum im Sturm eroberte und nach seiner Arie “Che gelida manina” mit spomntanem Beifall belohnt wurde. Er führte seinen hellen und schmelzreichen Tenor sicher durch die Partie und bestach mit ausgesprochen schönem Timbre. Zudem überzeugte er mit jugendlichem, engagiertem Spiel.

Regine Sturm gab die Musetta regiebedingt vielleicht etwas zu quirlig, stimmlich wurde sie der Partie trotz kleiner Abstriche bei der Auftrittsarie durchaus gerecht. Filippo Bettoschi war ein gestandener Marcello und bot ein starkes Rollenporträt. Das Quartett der vier war ein Höhepunkt der Aufführung. Das gilt auch für die Mantelarie des Philosophen Colline, die Leo Yeun-Ku Chu mit rundem, samtweichem Bass gestaltete. Ebenfalls ein Gast war Manos Kia, der dem Schaunard mit sehr markantem Bariton und attraktiver Bühnenerscheinung überdurchschnittliches Profil sicherte.

Marc Niemann dirigierte das bestens disponierte Philharmonische Orchester und den von Jens Olaf Buhrow einstudierten Chor schwelgerisch und mit vielen Farben, deckte die Sänger nicht zu und atmete mit ihnen.

Wolfgang Denker, 09.11.2015

Fotos von Heiko Sandelmann