Bremerhaven: „Turandot“, Giacomo Puccini

© Heiko Sandelmann

Die drei Rätsel, die die Prinzessin Turandot in Giacomo Puccinis Oper Turandot stellt, werden vom Prinzen Calaf zwar gelöst, aber rätselhaft bleibt in der Inszenierung von Philipp Westerbarkei trotzdem vieles. Das beginnt mit dem Schauplatz: Von einem China aus märchenhaften Zeiten ist nicht viel zu sehen, eher weht mit einem Art déco-Stil der 1920er Jahre ein Hauch von Babylon Berlin über der Szenerie. Bevor die eigentliche Oper mit ihren wuchtigen Orchesterschlägen beginnt, wird die Melodie von „Nessun dorma“ nur am Klavier gespielt. Eine junge Frau räkelt sich lasziv und setzt sich einen Schuss Rauschgift. Es ist Turandot, die die gesamte Handlung offensichtlich nur im Drogenwahn durchlebt. Die meistens dunkel gehaltene Bühne (ebenfalls von Westerbarkei) wird mit Vorhängen und Lichtstimmungen variiert. Im Bühnenhintergrund ist eine riesige, fahle Mondscheibe zu sehen. Bei den Kostümen (von Tassilo Tesche) ist schwarz die dominierende Farbe. Nur Turandot trägt zeitweilig ein blaues Gewand und einen üppigen Federkopfputz. Immer wenn Calaf ein Rätsel gelöst hat, legt sie ein Kleidungsstück ab: Ihren Federputz, ihren Umhang und später sogar die Perücke. Die drei Minister sind skurrile Figuren und scheinen der queeren Szene entsprungen zu sein. Warum sie sich zwischendurch entkleiden und neckische Spielchen vollführen müssen, bleibt unklar. Auch die Frage, warum Calaf am Ende der Oper wie tot am Boden liegt, bleibt offen. Zumindest sieht es nicht nach einem Happy End aus. Aber wenn die Handlung nur als Traum oder Rausch gesehen wird, sind die Gesetze der Logik ohnehin außer Kraft gesetzt und Diskrepanzen zwischen Text und Szene werden fast legitim. Da kommt es dann vor allem auf eine spannende Personenführung an. Und die ist Westerbarkei (wie schon bei seinem „Macbeth“ vor zwei Jahren) durchaus gelungen. Zwar fällt die Rätselszene etwas statisch aus, aber wie er den Chor als entfesselte Volksmasse führt, ist große Klasse. Der Dialog zwischen Liu und Turandot wirkt wie ein Gespräch unter Freundinnen mit einer zusehends nachdenklicheren Turandot.

© Heiko Sandelmann

Trotzdem wird Liu grausem gefoltert. Langweilig ist diese Turandot-Inszenierung jedenfalls in keinem Moment. Dafür sorgt schon die überwältigende musikalische Leistung. Mit Thomas Paul steht ein ganz hervorragender Calaf zur Verfügung. Seine kraftvolle und strahlende Tenorstimme kommt ohne Mühe problemlos über das Orchester, sein schönes Timbre verfärbt sich auch nicht in extremer Lage. „Non piangere Liu“ und natürlich das bravourös geschmetterte „Nessun dorma“ werden zu Höhepunkten der Aufführung. Auch Agnes Selma Weiland kann in der Titelpartie überzeugen. Sie hat die für diese Partie notwendige Durchschlagskraft und sichere, fast schneidende Höhe. In leiseren Passagen verliert die Stimme nur geringfügig an Substanz. Victoria Kunze ist eine der vielseitigsten Sängerinnen im Bremerhavener Ensemble. Auch als Liu trifft sie mit ihrem beseelten Gesang mitten ins Herz. Ihre Selbstopferung aus Liebe ist überzeugend und berührend. Unter den Ministern Andrew Irwin, Ido Bedit Halachmi und Marcin Hutek sticht besonders letzterer mit prägnanter Leistung hervor. Hutek singt auch die Partie des Mandarin. Ulrich Burdack und Jan Kristof Schliep als Timur und Altoum ergänzen das Ensemble.

© Heiko Sandelmann

Einen überwältigenden Eindruck hinterlassen die von Mario El Fakih Hernández und Edward Mauritius Münch bestens einstudierten Chöre, die in dieser Oper entscheidenden Anteil haben. Und Marc Niemann am Pult des Philharmonischen Orchesters Bremerhaven musiziert einerseits so wuchtig und andererseits so fein differenziert, dass keine Wünsche offen bleiben. Seine dynamische und stimmige Interpretation macht einmal mehr deutlich, zu welchen Höchstleistungen ein kleines Haus wie Bremerhaven fähig ist. Intendant Lars Tietje sollte sich fragen, ob der zur Zeit schwebende Konflikt mit dem Orchester wirklich nötig ist.

Wolfgang Denker, 16. September 2024


Turandot
Giacomo Puccini

Stadttheater Bremerhaven

Premiere am 14. September 2024

Inszenierung: Philipp Westerbarkei
Musikalische Leitung: Marc Niemann
Philharmonisches Orchester Bremerhaven

Weitere Vorstellungen: 22., 27. September, 10., 12., 20. Oktober, 22. November, 27. Dezember 2024