Bremerhaven: „Werther“, Jules Massenet

Der Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“ von Johann Wolfgang von Goethe ist die bedeutendste Liebesgeschichte der deutschen Literatur – eine unglückliche Liebesgeschichte zwischen Werther und Charlotte, die mit dem Selbstmord Werthers endet.. Und die Oper Werther, zu der Jules Massenet den Stoff verarbeitet hat, ist eines der besten Werke des französischen Opernrepertoires. Davon konnte man sich bei der Premiere im Großen Haus des Stadttheaters überzeugen, die musikalisch und szenisch rundum gelungen ist.

Boshana Milkov (Charlotte), Mirko Roschkowski (Werther) – (c) Manja Herrmann

Inszeniert hat Sam Brown, der 2018 mit dem Opernthriller „The Lodger“ von Phyllis Tate in Bremerhaven einen international beachteten Sensationserfolg verbuchen konnte. Er verlegt die Zeit der Handlung von der Sturm- und Drangzeit Goethes in die 1970er Jahre. Das klappt ohne Brüche. Das Bühnenbild von Alex Lowde zeigt eine Flucht von mehreren hellen Zimmern. Die Optik wird mittels Drehbühne verändert. Das Wohnzimmer wird von einem großen Bild von Charlottes Mutter beherrscht, der sie an ihrem Totenbett einst versprochen hatte, dass sie ihren Verlobten Albert heiratet. Und das ist Charlottes Konflikt, denn sie spürt, dass sie Werthers Liebe eigentlich erwidert. Aber bei der Wahl zwischen Pflicht und Zuneigung entscheidet sie sich für die Pflicht. Erst in Werthers Todesstunde bekennt sie sich zu ihm. Brown hat Charlottes Qualen in seiner im besten Sinne unspektakulären Regie mit vielen Nuancen und punktgenauer Personenführung herausgearbeitet. Das gilt auch für die Liebesqualen Werthers, der Charlotte immer heftiger bedrängt und seine Zurückhaltung kaum noch aufrechterhalten kann. Einzige „Zutat“ in Browns Regie: Charlotte hantiert mit einem Schwangerschaftstest und reibt sich am Ende ihren kleinen Babybauch.

Marcin Hutek (Albert), Victoria Kunze (Sophie) – (c) Manja Herrmann

Mirko Roschkowski als Werther ist eine Wucht. Er beherrscht diese riesige und höchst anspruchsvolle Partie durchgängig mit Bravour. Mit stimmlicher Präsenz, strahlender Höhe und einer ungemein emotionalen Ausdruckskraft setzt er Maßstäbe – nicht nur in der berühmten Arie „Pourquoi me réveiller“. Nur manchmal treibt er den Gefühlsüberschwang so weit, dass die Gesangslinie etwas leidet. Boshana Milkov ist ihm als Charlotte eine gleichwertige Partnerin. Ihr warm timbrierter Mezzosopran schillert in vielen Farben, ihre darstellerische Ausdrucksskala ist bezwingend. Roschkowski und Milkov sind eine ideale Besetzung für diese Oper. Viktoria Kunze ist Charlottes kleinere Schwester Sophie. Sie kontrastiert mit blitzsauberem Sopran Charlottes Tragik mit der heiteren Unbeschwertheit eines verliebten Teenagers. Dem Verlobten und späteren Ehemann Albert gibt Marcin Hutek durchaus eigenständiges Profil. Er entwickelt sich vom korrekten Pedanten zum Zyniker, wenn er Charlotte zwingt, den Revolver an Werther zu übergeben. Die Episodenfiguren Schmidt und Johann sind bei Andrew Irwin und Patrick Ruyters gut aufgehoben. Den im Rollstuhl sitzenden Amtmann Bailli gibt Ulrich Burdack. Mario El Fakih Hernández hat den Kinderchor bestens einstudiert.

Boshana Milkov (Charlotte) – (c) Manja Herrmann

Marc Niemann am Pult des Philharmonischen Orchesters Bremerhaven dirigiert Massenets suggestive Musik mit so viel Herzblut, dass es eine reine Freude ist. Schon die wuchtigen, von Tragik erfüllten Anfangstakte markieren den Weg, den er einschlägt. Die emotionale Wucht dieser Oper wird in jedem Moment deutlich. Die Leistung des Orchesters ist hervorragend, auch feinste Klangstimmungen (etwa das Saxophon bei Charlottes Arie) werden subtil umgesetzt.

Wolfgang Denker,  27. März 2023


Werther

Jules Massenet

Besuchte Premiere am 25.03.2023

Stadttheater Bremerhaven

Inszenierung: Sam Brown

Ausstattung: Alex Lowde

Musikalische Leitung: Marc Niemann

Philharmonisches Orchester Bremerhaven

Weitere Vorstellungen: 30. März, 1., 12. 15., 23., 28. April 2023