Bern: „Carmen“

14.09.2019

Faszination I, die Musik: Da denkt man, man habe Bizets CARMEN – von der keine vom Komponisten als endgültig deklarierte Fassung existiert – schon so oft gesehen, dass man musikalisch nicht mehr wirklich überrascht werden könne und ist dann bei dieser Berner Fassung der Oper doch erstaunt, wieviel Spannendes und neu zu Entdeckendes in dieser Partitur liegt. Der Chefdirigent des Berner Symphonieorchesters, Mario Venzago, hatte sich auf Spurensuche begeben und einige bis dato eher unbekannte Schätze dieser wunderbaren Musik gehoben. Da ist zum Beispiel gerade am Beginn die Pantomime genannte Szene zwischen Moralès und dem Chor. Oder die Urfassung der bekannten Auftrittsarie der Carmen L‘ amour est un oiseau rebelle, welche erst für die zweite Strophe in den allgemein bekannten, dramatischen Duktus einschwenkt. Zudem hatten sich der Regisseur Stephan Märki und Mario Venzage entschieden, sowohl auf die Dialoge als auch auf die von Ernest Guiraud nachkomponierten Rezitative zu verzichten, was zu einer packenden Stringenz und Unerbittlichkeit der Handlung führte.

Faszination II, die Inszenierung: Zur Ouvertüre torkelt Carmen auf die Bühne, im roten Hosendress. Eine Frau, am Rande des Abgrunds, ihr irrer Blick in die Tiefe des Orchestergrabens spricht Bände. Diese Frau ist stark suizidgefährdet, vom Leben mehr als enttäuscht, sucht den Tod als Erlösung vom langen und letzendlich erfolglosen Suchen nach Erfüllung. Sie hat alles durchgemacht, erduldet, manchmal selbstbestimmt, manchmal fremdbestimmt, verhaltensauffällig und exaltiert gelebt, nun den Tod erwartend. Um diese Frau dreht sich alles in der Inszenierung von Stephan Märki. Sie ist Projektionsfläche männlicher Begierden, spielt selbst aber auch gekonnt damit. Dass Carmen in allen Frauengestalten dieser Oper steckt, zeigen die identischen Perücken und die Schnitte der Kostüme von Carmen, Michaëla, Frasquita, Mércèdes und den Chordamen, sowie dem Kinderchor, in welchem lauter Püppchen-Carmens eines widerlichen Beauty Contests singen. In einer gigantischen Spiegelwand auf der Bühne spiegelt sich nicht nur der Zuschauersaal mit uns, dem Publikum, das so zu Voyeuren des Dramas wird, auch Carmen sieht sich im Spiegel. Doch der bekommt schnell Risse, die Spiegelbilder verzerren sich. Zudem kann sich die Spiegelwand teilen, Nischen bilden, Handlungsorte konzentrieren.

Die Bühne und die Kostüme wurden von Philipp Fürhofer entworfen, rund um den Orchestergraben verläuft eine Rampe, auf der sich die Sänger bewegen, uns ihre Emotionen ganz nahe bringen, beinahe schmerzhaft nahe. Der Boden ist eine schwarze Spiegelfläche, auf der Bühne wird die Hebebühne benutzt, was eine gleichzeitige Sicht auf die Handlung auf mehreren Ebenen ermöglichte. Zusätzlich sieht man die Zigaretten rauchende Carmen in einer grossen Videoprojektion, wie sie sich und ihre Entourage wie in einem Rückblick auf ihr Leben beobachtet. In diesem Bilderrahmen erscheint auch mal eine Landschaft, doch nichts Folkloristisches. Carmen als allgemeingültige Metapher für ein bis zum Exzess gelebtes (und gescheitertes) Leben. Stephan Märki hat zusätzlich die Figur des „Joker“ eingeführt, ein Tänzer, welcher Carmen in ihren quasi zweieinhalbstündigen Todestanz begleitet, ihr am Ende auch den Todeskuss gibt. Er ist es auch, der ihr eine Scherbe des zerbrochenen Spiegels erst als Don José erotisierende Waffe in die Hand gibt und sie am Ende sich selbst auf diese spitze Scherbe stürzen lässt. Das alles ist mit einer beachtlichen und stets ästhetischen Konsequenz in Szene gesetzt, wie auch insgesamt die Personenführung unerhört bezwingend gehalten ist. Beinahe soghaft wird man als Zuschauer – und eben Voyeur – in die Tragik heineingezogen.

Faszination III, die Interpreten: Claude Eichenberger ist eine absolut erstklassige Carmen. Nicht nur, weil diese Künstlerin eine herausragende Präsenz und Intensität des Spiels aufweist, eben ein richtiges Bühnentier ist, sondern und gerade auch, weil sie ihre wunderbare, bestechend sicher geführte Stimme so gekonnt mit all den zur Verfügung stehenden Schattierungen einzusetzen weiss.

Xavier Moreno besticht mit seinem herrlich direkt in allen Lagen sicher und sauber ansprechenden Tenor, der sowohl über Kraft als auch über tenoralen Schmelz verfügt, nie larmoyant oder verquollen klingt. Jordan Shanahan verströmt begeisternd die geforderte Virilität und Nonchalance des Escamillo, Oriane Pons lässt als Micaëla mit ihrem herrlich aufblühenden Sopran mit gekonnt eingesetztem, leicht dramatischem Beiklang aufhorchen. Orsolya Nyakas setzt als Frasquita fulminante Spitzentöne, z.B. im Finale II, Eleonaora Vacchi kontrastiert diese mit samtenem Mezzo. Zusammen mit Nazariy Sadivskyy (Dancïro) und Andries Cloete (Remendado) bilden diese vier Sänger ein exquisites Schmugglerquartett. Young Kwon singt einen soliden Zuniga und Todd Boyce als Moralès macht die neu entdeckte Pantomime im ersten Bild zu einem vokalen und darstellerischen Kabinttsstückchen.

Vittorio Bertolli verleiht dem Joker überaus agiles und dauerpräsentes Charisma. Zsolt Czetner hat den Chor und den Extrachor Konzert Theater Bern einstudiert – das Ergebnis lässt sich hören! Klangstark und rythmisch präzise singen der Damenchor auf der Bühne und der Herrenchor aus den Proszeniumslogen und dem ersten Rang. Auch der Kinderchor der Singschule Köniz steuert wunderbar reine Töne und gekonnte Synchronität beim Tapdance während des Beauty pageants bei.

Ein Ereignis stellen natürlich die Farbigkeit der Partiturauslegung und die mit herausragender Differenzierung und Subtilität austarierten Tempi des Berner Symphonieorchesters unter der mitreissenden Leitung von Mario Venzago dar!

Fazit: Wer CARMEN schon oft gesehen hat – HINGEHEN, weil es soviel Neues zu entdecken gibt und die Inszenierung von atemberaubender Stringenz ist.

Wer CARMEN noch nie gesehen hat – HINGEHEN, weil (siehe 1.) … .

(c) Tanja Dorendorf | T+T Fotografie

Kaspar Sannemann 18.9.2019