Klagenfurt: „La Traviata“

19. September 2017 (3. Vorstellung nach der Premiere vom 14. September 2017)

Zeitgemäßes Musiktheater mit ausdrucksstarker Violetta

Im Februar 2015 hatte das Leading-Team Richard Brunel (Regie)/Anouk Dell´Aiera (Bühne)/Axel Aust (Kostüme)/Laurent Castaingt (Lichtdesign) eine großartige Aufführung von Poulencs Dialogues des Carmélites auf die Bühne des Klagenfurter Stadttheaters gebracht. Diese Produktion erhielt damals nicht nur den OPERNFREUND-Stern *, sondern auch eine Auszeichnung beim Österreichischen Musiktheaterpreis 2016.

Auch mit der neuen Klagenfurter Traviata-Produktion ist diesem Team eine schlüssige Interpretation gelungen – kleine Einschränkungen seien nicht verschwiegen, aber sie ändern nichts daran, dass man einen durchwegs spannungsvollen und im besten Sinne zeitgemäßen Opernabend erleben konnte. Das Stück wurde in die Gegenwart transferiert – Violetta ist ein Fotomodell, Alfredo ist ein aufstrebender Jungpolitiker, der 1. Akt spielt auf einer Foto-Vernissage und der Violetta verehrende Baron Douphol ist ein Fotograf. Die Inszenierung lebt vor allem von der Ausdruckskraft der Violetta und von einer überaus präzisen Personenführung, die ohne jegliche stereotype Operngestik auskommt.

Leider gab es jeweils zu Beginn der einzelnen Bilder Video-Einblendungen bevor die Musik einsetzt. So gab es zu Beginn des 1. Bildes von Akt 2 eine Passage aus dem Film „Le mépris“ von Jean-Luc Godard mit Brigitte Bardot und Michel Piccoli aus dem Jahre 1963 – noch dazu mit der Originalfilmmusik als störenden Bruch. Wer Lust hat, der kann sich hier an den Bardot’schen Rundungen erfreuen. Unmittelbar nach dieser Filmeinblendung stimmt das Orchester das allegro vivace zu Alfredos Arie De miei bollenti spiriti. Bei Verdi ist das eine Soloszene. Bei Regisseur Brunel spielt sich diese Szene allerdings im Bett gemeinsam mit Violetta ab – das stellt zwar einen Bezug zu Bardot/Piccoli her, hat aber rein gar nichts mit dem Originallibretto zu tun. Alfredo – unentwegt umgarnt von Violetta – singt die ganze Arie in sein Handy…

Vor dem Ballfinale des 2.Aktes gibt es ein stummes Schattenspiel, in dem Männer eine Frauengestalt abtasten. Und besonders störend: vor dem wundervollen Vorspiel zum 3. Akt werden minutenlang Bilder und Signale medizinischer Apparaturen samt Röntgenaufnahmen eingespielt – wohl damit auch dem simpelsten Geist im Zuschauerraum klar wird: Violetta ist todkrank. All diese Zusätze hätte man ersatzlos weglassen können – der Handlungsablauf wäre ohne diese Mätzchen stringenter. Und noch ein lästige technische Panne: die Steuerung der deutschen Übertitel war an diesem Abend sehr fehlerhaft. Da las man z. B. am Ende des 2. Bildes „Ha – sie ist auf dem Fest“ schon sehr lange, bevor Alfredo diesen Ausbruch zu singen hatte und im letzten Bild blieb die Übertitelung überhaupt einige Zeit ganz einfach stecken. Übertitel sind sinnvoll – aber nur, wenn sie wirklich synchron mit dem gesungenen Text sind!

Aber nun genug der Kritik – es gab auch sehr viel Erfreuliches zu sehen und zu hören!

Die Bühnenlösung mit Drehbühne und sparsamen Versatzstücken war nicht nur praktikabel, sondern auch ästhetisch ansprechend und sehr schön ausgeleuchtet. Alle Aktionen waren klug durchdacht gestaltet – es blieb immer auch Raum für musikalische Ruhepunkte. Trotz der oben formulierten Einwände: es war eine sehr gelungene Inszenierung, die Handlung und Musik in einer zeitgemäßen Form vermittelte.

Der 28-jährige römische Tenor Giordano Lucà gestaltete glaubhaft Alfredo als einen etwas unbeholfenen Provinzpolitiker und Liebhaber. Er verfügt über eine in allen Lagen leicht ansprechende und sicher sitzende Stimme, die auch die dramatischen Ausbrüche überzeugend bewältigt. Ein wenig eindimensional ist bisher sein Timbre – durch Erfahrung wird er wohl noch mehr stimmliche Klangfarben dazugewinnen. Seinem Vater verleiht der Italiener Domenico Balzani, der schon seit längerem an mittleren Bühnen in diesem Fach tätig ist, Profil mit metallisch-harter Stimme. Seine Interpretation geht mehr von der Textartikulation aus – warmen Belcanto-Klang, den man gerade in dieser Rolle von den bedeutenden Vertretern des Fachs kennt und schätzt, kann er nicht bieten.

Der darstellerische und stimmliche Mittelpunkt des Abends war zweifellos das Rollendebut der 33-jährigen Irin Claudia Boyle . Sie war 2010 Mitglied des Young Singer Projects der Salzburger Festspiele und ist seither an den ersten europäischen Bühnen erfolgreich unterwegs. Die Traviata wird sie in dieser Saison auch noch in London singen. Mit ihr lernte man eine Persönlichkeit kennen, die Gesang und Spiel ideal zu verbinden verstand. Sie berührte in ihrer manchmal leicht steifen Zerbrechlichkeit – das war eine ganz individuell und überzeugend gestaltete Frauenfigur fern aller Vorbilder. Selten erlebt man eine Sängerin, die Gesangsphrasen nicht nur sehr schön singt, sondern auch glaubhaft in körperliche Bewegung umsetzt. Sie steigerte sich stimmlich von Akt zu Akt – wunderbar war es z. B., wie sie im Finale des 2. Akts das Chor- und Solistenensemble anführt, ohne je zu forcieren.

Großartig dann ihre Leistung im letzten Akt – Claudia Boyle wird ihren Weg auf den großen Bühnen machen. Mit dieser Traviata ist sie einen wichtigen Schritt ihrem großen Ziel näher gekommen, das sie in einem Interview so formuliert hatte: I’d love to perform Lucia at the Met, that’s a goal. Nach den Leistungen dieses Abends kann man ihr zutrauen, dass sie dieses Ziel erreicht!

Die Nebenrollen waren adäquat besetzt – aus ihnen ragten der kernige Bariton von Nicholas Crawley als Douphol und der samtig-zentrierte Bass von Jisang Ryu als Doktor heraus. Chor und Extrachor (Einstudierung: Günter Wallner) waren nicht nur sehr spielfreudig, sondern fielen diesmal besonders durch Präzision auf. Das ist wohl auch der musikalischen Gesamtleitung des Abends zu danken:

Die junge litauische Dirigentin Giedrė Šlekytė kommt ja ursprünglich vom Chordirigieren. Sie hat – wie man ihrem Lebenslauf entnehmen kann – nicht nur eine breite und fundierte Ausbildung, sondern trotz ihrer Jugend auch schon eine vielfältige internationale Dirigiererfahrung. An diesem Abend erwies sie sich als ideale Verdi-Interpretin. Sie fand stets das rechte Maß zwischen breit ausmusizierten Phrasen und stets federnd-vorwärtsdrängendem Brio. Die Koordination zwischen dem gut disponierten Kärntner Sinfonieorchester im Orchestergraben und der Bühne war problemlos und mit sicherer Hand zusammengehalten. Die Dirigentin atmete mit den Solisten mit – ohne allerdings dabei jemals den Gesamtzusammenhang aus den Augen zu verlieren.

Die beiden jungen Damen Claudia Boyle und Giedrė Šlekytė haben dem Publikum im ausverkauften Haus einen großen Verdi-Abend geboten, der lebhaften Beifall fand!

Hermann Becke, 20. 9. 2017

Hinweise:

– 12 weitere Aufführungen im September, Oktober und November

– Im Juli 2016 feierte der große Ricardo Muti seinen 75. Geburtstag im Rahmen eines Meisterkurses seiner Accademia per direttori d’orchestra im Theater von Ravenna. Die heute noch nicht 28-jährige Klagenfurter 1. Kapellmeisterin Giedrė Šlekytė war damals dabei und dirigierte Traviata-Ausschnitte. Sie kam im RAI-VideoAuguri Maestro“ in einem Interview zu Worte und schrieb: Celebrating 75th birthday of Maestro Riccardo Muti while conducting La Traviata. Great honour and inspiration!

Zweifellos hätte Ricardo Muti Freude mit dem Klagenfurter Verdi-Dirigat von Giedrė Šlekytė gehabt!

Szenenfotos: Stadttheater Klagenfurt, (c) Aljoša Rebolj