Vorstellung am 11. November 2017, (4. Vorstellung nach der Premiere vom 2. November 2017)
Außerordentliches musikalisches Niveau!
Dem Klagenfurter Intendanten Florian Scholz gelingt es immer wieder, sehr gute Besetzungen für seine Premieren zu gewinnen. Diesmal waren es drei junge künstlerische Persönlichkeiten, die diese Neuproduktion prägten und zweifellos auf ein musikalisches Niveau hoben, das durchaus hohen internationalen Standards entsprach – es waren dies der Schweizer Dirigent Lorenzo Viotti , die französische Mezzosopranistin Anaïk Morel als Charlotte und der deutsche Tenor Attilio Glaser als Werther. Sie machten die Aufführung wahrlich zu einem Ereignis und man kann nur allen Opernfreunden empfehlen, nach Klagenfurt zu reisen und eine der folgenden Aufführungen zu besuchen!
Der heute 27-jährige Dirigent Lorenzo Viotti ist zweifellos auf dem Wege zu einer Weltkarriere. Bereits im Alter von 25 Jahren war Lorenzo Viotti Gewinner des Nestlé and Salzburg Festival Young Conductors Award 2015, des 11. Internationalen Dirigentenwettbewerbs des Orchestra de Cadaqués sowie erster Preisträger des Dirigierwettbewerbs der mitteldeutschen Musikhochschulen beim MDR Sinfonieorchester. Klagenfurt ist es gelungen, Viotti schon sehr früh einzuladen – man erinnert sich an die ausgezeichnete Carmen-Einstudierung im Dezember 2015. Der Klagenfurter Werther ist nun gleichsam die Generalprobe für Viottis Werther-Übernahme in Zürich , die im Mai 2018 folgen wird. Lorenzo Viotti nimmt Massenets Partitur ernst und kostet sie in allen Details aus, ohne je kitschig und rührselig zu werden. Ihm gelingt es, dem Kärntner Sinfonieorchester eine ungemein reiche Klangpalette zu entlocken. Bruchlos entwickeln sich die Phrasen aus dem breiten Piano in einen üppig-kräftigen Orchesterklang, der die Solisten immer rücksichtsvoll trägt und nie zum Forcieren nötigt. Vom ersten Takt des Vorspiels an hört man gebannt der ungeheuren Intensität des Orchesterparts zu. Dank Viotti war es ein großer Abend des Orchesters – besonders packend etwa das Vorspiel zum 4. Akt.
Großartig und berührend war an diesem Abend Anaïk Morel als Charlotte, die wohl ungeachtet des Titels die Hauptfigur des lyrischen Dramas ist. Herb-souverän und in eleganter Schönheit beherrscht sie in den ersten beiden Akten die Szene – und vor allem: sie singt mit einem in allen Lagen völlig ausgeglichenen schlanken Mezzo. Im dritten Akt überzeugt sie dann mit einer intensiv-dramatischen Gestaltung der Briefszene, in der neuerlichen Begegnung mit Werther – und im vierten Akt ist sie große verzweifelte Tragödin. Da begegnet uns der Mensch Charlotte und nicht mehr die distanzierte Gesellschaftsdame. Anaïk Morel kann das nicht nur darstellerisch vermitteln, sondern auch mit großen, souverän geformten Gesangsbögen. Da wächst eine große Interpretin heran.
Und ebenso großartig war an diesem Abend ihr Werther in der Interpretation von Attilio Glaser. Er hatte mit 27 Jahren sein internationales Operndebut als Alfredo in Venedigs La Fenice im Jahre März 2014. Ich berichtete damals im OF hier darüber – durchaus nicht unkritisch. Inzwischen hat sich Attilio Glaser ungemein erfreulich weiterentwickelt. Als Werther bot er nun eine reife und ausgezeichnete Leistung. Die Stimme ist in allen Lagen und vor allem auch in allen dynamischen Abstufungen vollkommen ausgeglichen – da gibt es keinerlei Brüche oder Schwachpunkte. Für ihn gilt das bereits für seine Charlotte Gesagte: da wächst ein großer Interpret heran. Die beiden waren an diesem Abend nicht nur stimmlich ausgezeichnet – sie durchlebten ihre Partien auch mit großer Intensität. Da war nichts oberflächlich Gespieltes, da standen glaubhafte Menschen auf der Bühne.
Der französische Regisseur Vincent Huguet hat in der Führung der zentralen Figuren solide Arbeit geleistet – das ermöglichte den Solisten intensives und glaubwürdiges Agieren. Allerdings gab es in seinem Konzept auch so manches Ungereimtes und Unnötiges. So etwa die Einführung einer Kinderfigur, die sich während des Vorspiels von schweren Träumen geplagt im Bett wälzt. Dieses Kind erscheint dann im Laufe des Abends wiederholt als stumme Figur und da Kind übernimmt dann auch jene Pistolen, mit denen Werther sich tötet. Wie man dem Programmheft entnimmt, meint der Regisseur: Kindheit ist das eigentliche Leitmotiv des Textes. Diese tiefenpsychologische Deutung von Charlotte und Werther – Charlotte und Werther teilen die Seele eines Waisenkindes, das Verlust und Abwesenheit erlitten hat – ist mühsam und weit hergeholt, aber vor allem: sie bringt keinen bühnenwirksamen neuen Aspekt in das Spannungsdreieck Charlotte – Werther – Albert. Und noch ein wahrlich unnötiges Detail: warum Charlotte ihre große Briefszene am Nachmittag des Weihnachstages in der Badewanne singen muss, ist völlig unverständlich und daher unnötig.
Leider ist auch das Bühnenbild (Aurélie Maestre) ein veritabler Missgriff – vor allem in den ersten beiden Akten.
Da ragen zwischen kahlen Sichtbetonwänden drei Baumstämme durch die Decke. Dem Programmheft entnimmt man, das solle dem Lob der Natur… ein besonderes Gewicht verleihen – wohl weil im Libretto der zweite Akt mit Die Linden überschrieben ist. Dort heißt es in der (Original)Beschreibung der Szene: Links die Pfarrwohnung. Rechts das Wirtshaus mit Hopfengarten. Vor der Kirche verschnittene Linden, welche die Tür frei lassen. Unter den Linden neben dem Eingange zum Pfarrhause eine Bank.
Die von der Bühnenbildnerin gewählte Szenerie nimmt auf diese Vorgaben nicht Rücksicht, sie ist vielmehr laut Programmheft eine Hommage an den Architekten Sverre Fehn. Der norwegische Architekt hatte den nordischen Pavillon der Biennale Venedig 1962 um einige Bäume herum errichtet – siehe hier sein Modell. Der geneigte Opernfreund möge nun selbst enträtseln, was dieses architektonische Kunstwerk mit Massenets (oder Goethes) Werther zu tun haben kann….
Mir hat sich der Zusammenhang nicht erschlossen – ich kann nur lapidar sagen: ich fand das Bühnenbild schlichtweg hässlich und absolut stimmungslos!
Also halten wir uns lieber wieder an die großartigen musikalischen Leistungen des Abends. Zu ihnen zählten nämlich nicht nur der Dirigent und die beiden Hauptfiguren – auch die Nebenrollen waren durchwegs sehr gut besetzt.
Der junge amerikanische Bariton John Brancy war als Albert stimmlich und darstellerisch ebenso überzeugend wie die junge Engländerin Keri Fuge als Sophie. Beide werden ihren Weg machen – und man freut sich, Keri Fuge demnächst in Klagenfurt als Zerlina im Don Giovanni erleben zu können. Auch alle weiteren Nebenrollen – einschließlich der Kinder der Singakademie Carinthia – waren gut und rollendeckend besetzt. Da gab es keinen Schwachpunkt.
Dem Stadttheater Klagenfurt kann man zu einem musikalisch exzeptionellen Abend gratulieren. Das Haus war in dieser Repertoirevorstellung ausgezeichnet besucht – der Schlussbeifall war groß, begeistert und verdient!
Hermann Becke, 13. 11. 2017
Szenenfotos: Stadttheater Klagenfurt, (c) Karlheinz Fessl
Hinweise:
– Der elegant gemachte Trailer (2:19 Minuten) wurde erst nach der Premiere veröffentlicht und vermittelt einen guten Eindruck
– Anaïk Morel hatte 2011 die Charlotte im Finale des Concours Reine Elisabeth in Brüssel gesungen – davon gibt es ein Video
– Noch sieben weitere Aufführungen bis 21. 12. 2017 – der Besuch ist unbedingt zu empfehlen!