Aufführung am 22.4.18 (Premiere am 17.4.)
Erfreulich konservativ
Giuseppe Verdis vierte Oper sollte nach dem Willen der Auftraggeber den Spuren von „Nabucco“ folgen, dem Werk, mit dem der Komponist nicht nur seinen endgültigen Durchbruch, sondern einen wahren Triumph gefeiert hatte. Obwohl Verdi diesem Auftrag folgte, indem für das Libretto wieder Temistocle Solera herangezogen wurde, ebenso wie die Wahl wieder auf ein historisches Sujet fiel und mit „O signore, dal tetto natio“ ein Chor entstand, der dem „Va‘ pensiero“ in keiner Weise nachstand, kann die Weiterentwicklung des Komponisten wunderbar verfolgt werden. Die Figuren haben an persönlichen Farben gewonnen, sind als Individuen gesehen. Obwohl die auf dem Versepos von Tommaso Grossi (der seinerseits eine Episode aus Torquato Tassos „Gerusalemme liberata“ als Grundlage für sein Werk nahm) fußende Dramaturgie in den vier Akten relativ viele kurze Bilder vorsieht, spannt sich doch schon ein großer musikalischer Bogen vom 1. Akt, der vor der Mailänder Kirche Sant’Ambrogio spielt, bis zum letzten Bild, in dem der reuige Vatermörder Pagano noch das von den Kreuzfahrern zurückeroberte Jerusalem sehen kann, bevor er seine Seele aushaucht.
Im Teatro Regio wurde das Werk 1843 erstmals gegeben, im selben Jahr der Uraufführung an der Scala, aber seit 1926 (!) nicht mehr. Diese Koproduktion mit Liège/Lüttich füllte also eine bedeutende Lücke und tat dies mit einer Produktion, die für das Auge äußerst erfreulich war. Ich kenne die Arbeiten von Stefano Mazzonis di Pralafera, dem Intendanten und künstlerischen Leiter der Opéra de Wallonie, durch meine Tätigkeit als Übersetzerin von Untertiteln (man verzeihe die private Anmerkung), womit ich schon wusste, dass wir es mit einer konservativen Inszenierung zu tun haben würden. Auch hier wurde man nicht enttäuscht, denn das Bühnenbild von Jean-Guy Lecat hatte sehr viel Atmosphäre, ließ sich aber auch leicht von einer Mailänder Piazza in den Hof eines Harems verwandeln. Eine Augenweide waren die Kostüme von Fernand Ruiz; nur ein paar seltsame Kopfbedeckungen wirkten etwas bizarr. Geregelte Auf- und Abtritte von Chor und Solisten machten Freude, wobei nur ein gar sehr rhythmisches Speerschütteln im Anblick des Feindes übertrieben war. Im Ganzen handelte es sich aber um eine ästhetisch besonders erfreuliche Produktion, und man war dankbar, dass angesichts der Lage im Vorderen Orient eine „aktuelle“ Auseinandersetzung zwischen Christen und Musulmanen (also dem Islam) vermieden wurde.
Musikalisch war die Wiedergabe überhaupt ein Fest. Michele Mariotti, für mich zweifellos der Bedeutendste des italienischen Dirigentennachwuchses, gab dem jungen Verdi, was des jungen Verdi ist, wobei er mit dem Orchester des Hauses aber niemals Eindruck von m-ta-ta bewirkte, sondern den frischen, vorwärts drängenden Klang eines jungen Genies hören ließ. Auch der von Andrea Secchi einstudierte Chor machte mit Volumen ebenso Eindruck wie mit raffinierter Tongebung.
Die in Italien schon heiß erwartete Angela Meade wurde ihrem Ruf gerecht und sang eine hinreißende Giselda. Eine Sopranstimme, die über das gesamte Spektrum eine homogene Farbe aufweist, die sovracuti und Intervallsprünge des jungen Verdi problemlos meistert – ein echter Spintosopran mit guter Aussprache und exzellenter Phrasierung. Ihr einziges, aber heutzutage leider wichtiges Handicap ist angesichts der heute verlangten visuellen Eigenschaften ihre Körperfülle. Als Vatermörder und in der Wüste büßender Pagano war Alex Esposito zu hören, der neben seinem interessanten Bassbariton exzellentes schauspielerisches Talent ins Feld führen kann. Ein (unnötigerweise) eingelegter Spitzenton am Schluss seiner Cabaletta zeigte allerdings die Grenzen seiner vokalen Möglichkeiten im dramatischen Bereich auf.
In der lyrischen Tenorrolle des Oronte glänzte Francesco Meli trotz eines kleinen Ausrutschers in „La mia delizia diffondere“. Seine Mutter Sofia wurde von Alexandra Zabala mit innigem Sopran verkörpert. Arvino, Bruder Paganos und Heerführer der Lombarden, litt unter einer offensichtlichen Indisposition des Tenors Giuseppe Gipali. Als Wendehals Pirro ließ der junge Bass Antonio Di Matteo aufhorchen. Lavinia Bini ergänzte solide als Arvinos Gattin Viclinda, was auch für Giuseppe Capoferri als Orontes Vater gilt. Peinlich die paar Phrasen des Tenors Joshua Sanders als Prior von Mailand.
Große Begeisterung und viele Bravorufe des Publikums vor allem für Meade und Mariotti, gefolgt von Meli und Esposito.
Eva Pleus 27.4.18
Bilder: Ramella&Giannese / Teatro Regio Torino