Aachen: „La Traviata“

Erstbesprechnung

Vorstellung: 22.12.2017

Interessant, aber bedeutungsschwer

Die Projektion eines gestirnten Himmels lässt sogleich ahnen, dass die neue Aachener „Traviata“ nicht aus einem erzählerisch konkreten Blickwinkel geboten wird. Unterstrichen wird das dann durch das Bühnenbild von Elisabeth Pedross: ein nacktes helles Bodenrund, nach vorne geschrägt, gelegentlich in Drehbewegung gesetzt. Außerdem sticht sogleich eine kompakte, düstere Figur ins Auge, welche man anfangs als Germont père deutet. Aber der reale Darsteller dieser Partie ist ein hochgewachsener, schlanker Mann. Fotos im Programmheft klären schließlich auf. Es handelt sich um Doktor Grenvil. Er steht Violetta durch seine medizinische Kunst nahe (möglicherweise auch durch persönliche Bonhomie) und wird von der Regisseurin Ewa Teilmans als Mahnfigur immer wieder auf die Bühne geschickt. Vielleicht auch eine Art Todesgott, wie sie vor dem letzten Bild in den Sternenhimmel eingeblendet wird.

Solcherart gibt sich die Inszenierung sogleich als überaus bedeutungsschwer zu erkennen. Nach einem zu viel des Guten wird man auch später immer wieder fragen müssen. An realistischer Stringenz ist Frau Teilmans offenkundig nicht interessiert. Das erleichtert ihr den Umgang mit dem Chor, der in der Regel tableauhaft um die Spielfläche verteilt ist. Ein bisschen kalauernde Volksfeststimmung freilich im ersten Bild.

Werden die Bilder richtig gedeutet, sieht die Regisseurin in Violetta ein radikal ausgegrenztes Geschöpf, von der Gesellschaft für schnelle erotische Bedürfnisse zwar als tauglich, als Mensch mit seelischer Verletzlichkeit indes als uninteressant erachtet. Violettas Einsamkeit in dieser Welt wird noch dadurch unterstrichen, dass die Protagonistin nicht an Tuberkulose leidet, sondern drogenabhängig ist. Das letzte Bild wirkt für das Regiekonzept am schlüssigsten. Aus dem von Anfang an anwesenden Chor treten eine Reihe von Männern zu der am Boden Liegenden, werfen einen mitleidslosen Blick auf sie und gehen ohne Gefühlsregung ab. Die Kurtisane hat ihren Dienst getan, soll sie jetzt doch einfach entsorgt werden.

Aber auch in diesem an sich starken Moment leidet die Regie an einer Art Überprägnanz, am Willen, alles, aber auch alles deutlich zu machen. So bildet das Gerangel zwischen Vater und Sohn Germont am Ende des zweiten Bildes auch noch die stumme Introduktion des dritten. Der Chor der Zigeunerinnen ist ein Alfredo fast vergewaltigendes Fingerlesen, bei dem der Matadore wird ein riesiges Stierskelett auf Stangen symbolhaft über die Bühne getragen. Dass Alfredo gleich auf der Szene ist, aber erst Minuten später von den Anwesenden wahrgenommen wird, ist eine Unlogik, die man dem individuellen Regiekonzept allerdings noch in etwa zuschlagen kann. Nota bene kennt die Inszenierung auch kleine Schelmereien. Alfredos „De miei bollenti spiriti“ beispielsweise gerät zu einer Kissenschlacht der Verliebten, Die immer wieder kichernde Violetta deutet sogar spielerisch eine künftige Schwangerschaft an.

Unter Karl Shymanovitz erspielt sich das Sinfonieorchester Aachen Verdis Musik klanglich luzide wie auch nachdrücklich dramatisch. Der Chor (Elena Pierini) singt mit Inbrunst und spielt, was ihm aufgetragen ist.

Die solistischen Nebenfiguren sind durchwegs trefflich besetzt: Kim Savelksbergh (Flora), Ursula Brachmanski (Annina), Soon-Wook Ka (Gaston), Michael Terada (Douphol), Ang Du (D’Obigny), Vasilis Tsanaktsidis (Grenvil). Als Germont père glänzt Hrólfur Saemundsson mit starker Belcanto-Intensität, die bei der Szene mit Violetta aber noch nicht ganz ausgeprägt wirkt. Der Alfredo von Alexey Sayapin gefällt mit tenoralem, jugendlichem Ungestüm und vervehafter Darstellung. Der Violetta von Solen Mainguené werden Zwischentöne und vokale Geschmeidigkeit sicher weiter zuwachsen; die Koloraturen sind noch nicht top. Aber die französische Sopranistin, vor einiger Zeit in Gelsenkirchen als (das Cello höchstselbst bedienende) Offenbach-Antonia zu erleben, kniet sich in ihre Partie mit Herzblut hinein. Diese Violetta erweckt beim Zuschauer unweigerlich Mitleid.

Verdi über alles, wirklich. Aber „Traviata“ enthält auch Längen, (vor allem szenisch) gefährliche Längen, um es mit Straussens „Ariadne“ auszudrücken (so diverse Cabalettas, zumal die von Germont père). Trotz ihrer musikalischen Wertigkeit gilt also die „Ariadne“-Empfehlung: man lässt sie (besser) weg.

Bilder (c) Carl Bruns

Christoph Zimmermann (23.12.2017)