Aachen: „Manon“, Jules Massenet

Lieber Opernfreund-Freund, das Schicksal von Manon Lescaut aus dem gleichnamigen Roman von Abbé Prévost aus dem Jahr 1731 hat gleich vier Komponisten zu Opern inspiriert: neben Daniel-François-Esprit Auber, der die Geschichte 1856 erstmals vertonte, ließ sich auch Hans Werner Henze fast hundert Jahre später zu einer Vertonung unter dem Titel Boulevard Solitude hinreisen. Dazwischen liegen die gleichwohl bekannteren Versionen von Giacomo Puccini und Jules Massenet. Doch wie schon Puccini 1893 Bedenkenträgern entgegnete, die die zeitliche Nähe zur Massenet-Komposition 1884 kritisch sahen: eine Frau wie Manon kann mehrere Liebhaber haben.

(c) Carl Brunn / Probenfoto

Massenets Manon ist nun derzeit am Theater Aachen zu erleben und die hörbar französische Komposition ist klanglich feiner als die vor italienischer Leidenschaft sprühende Version von Puccini, besticht aber dennoch durch wunderbare Melodien sowie einen spannenden Handlungsverlauf. Dass der Aachener Abend dennoch die eine oder andere Länge aufweist, liegt an der szenischen Umsetzung von Lucia Astigarraga. Die aktualisiert die Geschichte und holt sie aus der Welt der Kleinadeligen des 18. in die Filmwelt des 20. Jahrhunderts. Ein an sich nachvollziehbarer Coup, der vor allem im ersten Akt szenisch vollkommen im Hollywood der 1950er Jahre anzusiedeln ist. Manon ist ein Landei, das mehr oder weniger in der Glitzerwelt ankommt, in der ihr Cousin Lescaut als Schauspieler arbeitet – aber eher am Kartentisch als auf der Leinwand eine Rolle spielt. Des Grieux ist hier folgerichtig ein Komparse mit einem Filmmogul als Vater, der Manon zufällig am Set begegnet und ihr sofort verfällt. So weit so nachvollziehbar, belässt es Astigarraga aber in den folgenden Akten dabei, den Protagonisten schlicht andere Klamotten anzuziehen. Zwar gelingen Eva Butzkies dabei herrliche Glitzerroben für den roten Teppich im zweiten, und schicke Gesellschaftskleidung im Casino des „Hotel Transsylvanie“ im vierten Akt; weiterhin sinnstiftend ist das allerding nicht.

(c) Carl Brunn / Probenfoto

Erst im letzten Bild gelingt Astigarraga wieder eine eigene nachvollziehbare Deutung: im Gefängnis nehmen Manon und Des Grieux voneinander durch eine Glasscheibe getrennt voneinander Abschied, statt in seinen Armen, stirbt Manon allein und verlassen. Vielleicht hätte auch ein wenig Bühnenbild geholfen – dann die oft bis auf wenige Requisiten leere Bühne von Aida Guardi, die nach hinten durch Vorhänge begrenzt ist, wirkt irgendwie unfertig. Um mich herum nehme ich immer wieder Blicke auf die Uhr wahr – ein untrügliches Zeichen, dass das Publikum sich nach einer Pause oder dem Ende sehnt.

(c) Carl Brunn / Probenfoto

Musikalisch hingegen gibt es kaum etwas zu kritisieren. Suzanne Jerosme ist eine Manon zu Niederknien, die mit wunderbaren Piani verzaubert und ihre Figur eher zart anlegt. So zeigt das französische Ensemblemitglied, dass es nicht nur zu höchster Expressivität wie zum Beispiel in der Voix humaine der vergangenen Spielzeit fähig ist, sondern eine facettenreiche Vollblutkünstlerin, die ein wahrlich breites Spektrum sängerisch und darstellerisch glaubhaft verkörpert. Auch Yu Shao hatte mich als Raffaele im Stiffelio schon begeistert und steigert die Leistung nun als Des Grieux sogar noch: er krönt sein weiches Timbre mit glänzenden Höhen. Henry Neill zeigt als Cousin Lescaut seinen samtenen Bariton und ist auch darstellerisch überaus präsent, während Patricio Arroyo als Guillot mit glasklarem Tenor überzeugt. Im Graben hält Chanmin Chung die Fäden zusammen und malt Massenets Partitur in strahlenden Farben. So lohnt sich die Produktion aus musikalischer Sicht unbedingt – das macht die szenischen Schwächen am Ende des Abends dann auch vergessen.

Ihr Jochen Rüth 17. April 2023


Manon

Oper von Jules Massenet

Premiere: 02.04.2023

Besuchte Vorstellung: 15.04.2023

Inszenierung: Lucia Astigarraga

Chorleitung: Jori Klomp

Musikalische Leitung: Chanmin Chung

Sinfonieorchester Aachen

Weitere Vorstellungen: 30.04., 5., 11. und 20.05. sowie 01. und 10.06.2023