Aachen: „Le nozze di Figaro“ Wolfgang Amadeus Mozart

Mozarts Oper „Le Nozze di Figaro„, die Mozart in seinem thematischen Verzeichnis selbst als opera buffa bezeichnet hat, ist nur wenige Jahre vor Ausbruch der Französischen Revolution am 1. Mai 1786 im Burgtheater am Michaelerplatz durch die Wiener Hofoper uraufgeführt worden. Das Libretto von Lorenzo da Ponte fußt auf der Komödie „La Folle Journée ou le Mariage de Figaro“ (Der tolle Tag oder Die Hochzeit des Figaro) von Pierre Augustin Caron de Beaumarchais aus dem Jahr 1778, die wegen ihrer Kritik an den Privilegien des Adels und generell am Ancien Regime das Missfallen Ludwigs XVI. hervorrief und dadurch dem vorübergehenden Verdikt eines Aufführungsverbots verfiel.

Ob Mozarts persönliche Erfahrungen mit Adel und Klerus ihn dazu bewogen haben, eine Oper zu komponieren, in denen mit Susanna und Figaro zwei Figuren des dritten Standes die entscheidende Rolle spielen, sei dahingestellt. Deutlich wird indes, dass der Adel in Gestalt des Grafen Almaviva in „Le nozze di Figaro“ durchaus kritisch gesehen und zuweilen in seinem anzüglichen Verhalten geradezu vorgeführt wird. Ob sich hiermit Mozart und da Ponte in die Reihe der revolutionären Aufklärer im Vorfeld der Französischen Revolution einreihen, darf aber bezweifelt werden. Und so schreibt Fabian Oliver Bell in seinem Beitrag „Rosen und Revolutionen“ für das Programmheft: „Vielleicht ist die Liebe zwischen Figaro und Susanna der eigentliche revolutionäre Kern… und so obsiegt in Le nozze di Figaro die Liebe über die
überkommenen Strukturen“ (S. 17)

Mario Corradi löst in seiner Inszenierung die Handlung der Oper aus ihrem historischen Kontext und siedelt sie im Hier und Jetzt an. Das wird überdeutlich nicht nur durch die modernen Kostüme und das moderne Interieur (Italo Grassi) der Wohnung Almavivas und Rosinas, sondern durch eine Leuchtschrift an der rechten Wand, die als Datum des beobachteten Geschehens den Tag der Premiere, nämlich den 30.10.2022, angibt und ganz im aristotelischen Sinne mit der Kennzeichnung der verstreichenden Stunden und Minuten auf die Einheit von Handlung, Ort und Zeit verweist. Wenn sich der Vorhang mit einem eher surrealistischen Bild des Eingangs in ein herrschaftliches Haus, aus dem das Konterfei Mozarts die Besucher eindringlich betrachtet, hebt, dann sieht man als Zuschauer einen hohen, mehrstöckigen Raum mit grau-grünen Wänden, angedeuteten Fensternischen und einer offenen Decke, wodurch der Eindruck eines Patios entsteht. Dieser Raum ist im ersten Akt eine Küche mit Küchentheke und großem grünem Eisschrank, der Cherubino als Versteck dient. Alle Personen kommen in dieser Küche in den Genuss ausgiebigen Kaffeetrinkens. Im zweiten Akt wandelt sich der Raum in das Schlafzimmer der Gräfin mit einem recht schmucklosen modernen Bett, wird im dritten Akt zum mit Antiquitäten ausgestatteten Arbeitszimmer des Grafen und öffnet sich im letzten Akt zu einem luftigen Gartengemäuer. Nun strömt durch die geöffneten Fensternischen das blaue, magische Licht der Abendstimmung (Licht: Dirk Sarach-Craig), in der Susanna ihre sehnsuchtsvolle Liebesbeteuerung an Figaro verströmen darf: „Deh vieni non tardar, o goia bella…“ Mit den auch schon im dritten Akt zu beobachtenden stilisierten Bäumen im Hintergrund ist Italo Grassi hier ein sehr stimmungsvolles Bühnenbild gelungen.

Gelungen erscheint auch die Idee, im ersten und zweiten Akt jeweils auf der linken Bühnenseite horizontal einen zweiten Schauplatz einzurichten. Im ersten Akt sieht man in das Schlafgemach Rosinas und Almavivas und muss konstatieren, dass diese Ehe offensichtlich in einer Krise steckt. Almaviva vergräbt sich in eine Zeitung und schaut auf sein Handy, ohne auf die Annäherungsversuche seiner Frau einzugehen. Was wirkliche Zuneigung bedeutet, zeigen parallel dazu Susanna und Figaro, als sie darüber nachdenken, wie sie die Möbel in ihrem Zimmer anordnen sollen. Im zweiten Akt ist dieser Nebenraum das Ankleidezimmer der Gräfin, in das sich Cherubino flüchtet.

Gespielt wird von allen Akteuren mit größtem Engagement, wenn auch die Regie Szenen reinen Stehtheaters nicht ganz vermeiden kann. Mario Corradi entgeht allerdings wohltuender Weise der Falle, die modern ausgelegte Handlung einseitig auf eine MeToo-Debatte zu verkürzen. Nicht nur Almaviva ist sich seiner Gefühle nicht sicher, auch Rosina und Susanna scheinen den Avancen von Cherubino und Almaviva nicht ganz abgeneigt zu sein. Allerdings muss dann doch Don Basilio im Gewande eines Priesters auftreten und seine Finger nach Cherubino ausstrecken, ein sehr durchsichtiger Versuch der Regie, die Missbrauchsdebatte im Sinne der Aktualisierung der Handlung des Figaro aufzupropfen. Am Ende siegt dann doch durchaus im Geiste Mozarts die echte Liebe über alle Unwägbarkeiten.

Musikalisch ist dieser Aachener Figaro mehr als erfreulich. Das gilt vor allem für das Ensemble der Sängerinnen und Sänger. Suzanne Jerosme als Susanna bezaubert mit ihrem glockenklaren, wunderschön geführten lyrischen Sopran und singt die Rosenarie mit großer Innerlichkeit. Anastasiia Povazhna verfügt über eine leuchtende Sopranstimme und kann vor allem in ihrer großen Arie „Dove sono i bei momenti“ in der achten Szene des dritten Aktes auch mit herrlichen Pianotönen überzeugen. Publikumsliebling war an diesem Abend aber eindeutig Fanny Lustaud als Cherubino. Ihr warmer, flutender Mezzosopran erwies sich als ideal, um die gefühlsmäßige Zerrissenheit des Pagen Cherubino in Töne umzusetzen. Für den erkrankten Ronan Collett verkörperte Henry Neill die Rolle des Grafen Almaviva und überzeugte schauspielerisch und sängerisch auf der ganzen Linie. Ihm gelingt es ganz wunderbar, die unterschiedlichsten Gefühle von Eifersucht, Wut, Zweifel oder auch Beschämung stimmlich zu gestalten. Sein Contessa, perdono ertönt wirklich so flehentlich, dass Rosinas Vergebung der moralischen Fehltritte ihres Mannes glaubhaft erscheint. Die Titelpartie gestaltete Sreten Manojilovic nach eher verhaltenem Beginn zunehmend souverän und rollendeckend. Er verfügt über ein sehr interessantes Timbre und kann vor allem mit seinem höhensicheren Bariton in seinen großen Arien auftrumpfen. Auch die Nebenrollen
waren durchweg ansprechend besetzt. Stellvertretend sei der voluminöse Bass von Vasilis Tsanaktsidis in der Rolle des Gärtners Antonio besonders hervorgehoben.

Nach einigen Wacklern zu Beginn zwischen Orchester und Bühne und etlichen Intonationsunsicherheiten bei den Bläsern gelang es dem Sinfonieorchester Aachen unter Leitung von Chanmin Chung zunehmend, Mozarts herrliche Musik in all ihren Schattierungen und Färbungen zum Klingen zu bringen. Auch der Opernchor Aachen (Juri Klomp) trug zum Gelingen eines Opernabends bei, der vom Publikum im ausverkauften Haus frenetisch bejubelt wurde.

Norbert Pabelick, 02.11.2022


Wolfgang Amadeus Mozart „Le nozze di Figaro“ / Premiere am 30.10.2022 Theater Aachen

Inszenierung: Mario Corradi

Musikalische Leitung: Chanmin Chung/Mathis Groß

Sinfonieorchester Aachen