Wien: „Der Freischütz“, Carl Maria von Weber

Die Warnung kam in letzter Minute und hat doch nicht in vollem Ausmaß auf das vorbereitet, was das Theater an der Wien im MuseumsQuartier angeblich als Webers „Freischütz“ bietet. Zugegeben, man war überrascht. Man ist ja in der Oper spätestens seit Castorf ausreichend von vielen und wackeligen Live-Videos belästigt worden, aber dass eine angekündigte „Live-Film-Oper“ wirklich vollinhaltlich als solche gemeint ist – nämlich, dass man das Geschehen von der ersten bis zur letzten Minute nur auf der Leinwand sieht, das hat bisher doch noch niemand geboten.

Der ungarische Regisseur David Marton durfte es auch als sein eigener Designer entwickeln (und das Teatro Real in Madrid macht mit). Tatsächlich sind die Sänger bereit, hinter der Kinoleinwand einzig und allein für die Kameras zu agieren, die man ihnen ins Gesicht hält. Das wird dann ungemein kunstvoll auf der Leinwand in jenen Film hineingefügt, der schon als Basis des Geschehens agiert und einen surrealen Wirbel ohnegleichen entfacht (mir fällt dazu der Ausdruck „Springorgastik“ ein).

(c) William Minke

Anfangs, wenn hier Agathe auf der Leinwand aus dem  Schlaf zu erwachen scheint, meint man es mit „Agathes Traum“ (oder Agathes Alptraum…) zu tun zu haben (nicht neu, aber bitte) – und dann würde man zu den Echtmenschen auf der Bühne übergehen. Dachte man. Aber nein, wir leben im digitalen Zeitalter, wo – wie man lesen kann – vor allem junge Menschen das, was sich auf ihrem Smartphone abspielt, für genau so echt halten wie das wahre Leben. Wozu also noch echte Sänger, wenn man sie filmen und mit allem digitalen Tricks verändert auf der Leinwand zeigen kann?

„Agathes Traum“ wird es nicht, und natürlich auch kein „Freischütz“. Wobei man ja zugeben muss, dass man selbst bei aller Liebe für diese schrankenlos geniale Musik das zugrundeliegende Libretto eher peinlich findet. Wenn ein Regisseur also auf das schnaderhüpferlnde Jägervergnügen verzichtet, gut, kein Verlust. Wenn der „Jungfernkranz“ allerdings von einer Art grüngesichtiger Gespenster dargeboten wird, kann man nur den Kopf schütteln. Ännchen singt von „Nero dem Kettenhund“ (auch immer sehr schwer zu lösen) in einer Art Hauskonzert. Und Samiel – ja, das wird leider gar nichts. Die wunderbare Dämonie dieser Szene ist futsch. Wie man den „Freischütz“ überhaupt hier nicht erkennt, wenn man ihn kennt, und vermutlich keine Ahnung hat, was vorgeht, wenn man ihm in dieser Form zum ersten Mal begegnet.

Wobei sich der Regisseur jede Menge Seltsamkeiten leistet, nicht nur, dass Max Ännchen hinter dem Rücken von Agathe küsst (warum?), Bleibt das Video-Geschehen bis gegen Ende annähernd bei den Protagonisten, driftet es am Ende total fort – zu einem Spaziergang durch Wien, durch Straßen und Passagen. Wenn „Drum finde nie der Probeschuss mehr statt“ erklingt, sieht man eine Straßenbahn vorbeiziehen, und zum strahlenden Schlussgesang beschäftigt sich der Inhaber eines Würstelstandes mit seinen – Würsteln. Hat man bis dahin schon das meiste nicht eingesehen, so versteht man nun nur noch Bahnhof.

Dazu kommt die Idee, nicht nur Deutsch, sondern in allen möglichen Sprachen parlieren zu lassen, von denen man einige nicht kennt. Aber wenn die Amerikaner auf der Bühne Englisch sprechen und der (im Sänger-Original) italienische Kaspar die Freikugeln eben auf Italienisch gießt (ich gebe es zu: Mit fehlt geradezu „fas rechte Auge eines Wiedehopfes! Das linke eines Luchses!“), kann man annehmen, dass auch die anderen Herrschaften in den Dialogen ihre Muttersprache sprechen dürfen – eine Russin, ein Finne, ein Ungar, ein Ukrainer… ist jetzt bewiesen, dass der „Freischütz“ nicht nur eine „deutsche“ Oper ist? Die Musik erzählt etwas anderes…

Sie wird den Wiener Symphonikern von Patrick Lange mit schwungvoller Lautstärke abverlangt, die „Romantik“ kommt zu kurz, aber was sollte sie bei den gebotenen Bildern? Die Sängerdarsteller, von drei Live-Kameramännern verzerrt, agieren hinter dem Vorhang, die Video-Bildsprache lässt keinen Raum für darstellerische Leistungen.

(c) William Minke

Jacquelyn Wagner ist, auch wenn aus „Agathes Traum“ nichts wird, weil man das Ganze dann dramaturgisch hätte anders auflösen müssen, gesanglich eine so vorzügliche Agathe wie Sofia Fomina, als Darstellerin eher seltsam, ein tadelloses Ännchen singt. Tuomas Katajala schmettert Max, der drahtige Alex Esposito ist mehr ein scharfer als ein sonorer Kaspar. In den Nebenrollen ohne Tadel Guido Jentjens, Dean Murphy, Levente Páll und Viktor Rud. Der Arnold Schoenberg Chor (geleitet von Erwin Ortner), der Besseres verdient hat, ist meist nur zu hören – und wenn zu sehen, dann digital entstellt.

Nun ist es also so weit: Oper als Springorgastik-Kino mit der Musik als Live-Soundtrack. Ein Teil des Publikums applaudierte. Einem großen Teil war das jedoch heftige, geradezu wütende Buh-Rufe wert.

Renate Wagner 23. März 2023


Der Freischütz

Carl Maria von Weber

Wien

Theater an der Wien

Besuchte Premiere 22. März 2023

Regie: David Marton

Dirigat: Patrick Lange

Wiener Symphoniker