Wien: „Egmont“, Christian Jost

Vorstellung 21.2. (Uraufführung am 17.2.)

Neue Oper mit Repertoire Qualitäten!

Der Rezensent hat Goethes Freiheitsdrama niemals in Wien auf einer Bühne gesehen und kennt es daher nur von der Schullektüre. Recherchiert man etwas im Internet so wurde Goethes Egmont offenbar zuletzt 1961 von Leopold Lindtberg (1902-84) am Burgtheater inszeniert. Ihm stand damals wohl die erste Riege der Mimen am ehrwürdigen Haus am Ring zur Verfügung: Fred Liewehr als Egmont, Martha Wallner als Klärchen, Albin Skoda als Alba, Attila Hörbiger als Oranien und in den kleineren Rollen Judith Holzmeister, Günther Haenel, Hermann Thimig und Alma Seidler. Der Autor kommt schließlich zum Resümee: „Daß Goethes ‚Egmont‘ trotz allem kein gutes Theaterstück ist und der Schluß, wie immer man ihn anpacken mag, zur Oper wird, konnte man bei solcher Vollendung fast vergessen (https://www.zeit.de/1961/25/die-grosse-freiheit-von-wien/seite-2)“.

Das Theater an der Wien hat im Beethoven-Jahr richtig erkannt, dass die sublime Schauspielmusik Beethovens dem Drama Goethes alleine wohl nicht zu Popularität verhelfen kann. Der Freiheitskampf der Niederländer ist wohl den meisten Opernliebhabern eher aus Verdis „Don Carlo(s)“ bekannt, zumal Goethes „Egmont“ auf den Theaterbühnen hierzulande kaum je aufgeführt wird. Christoph Jost und seinem Librettisten Christoph Klimke hat es der Rezensent zu verdanken, eine seiner „vielen Bildungslücken“ nunmehr wieder etwas gekittet zu sehen. In 90 Minuten entfaltet sich das Drama in 15 spannungsgeladenen Szenen. Unter Verzicht auf Nebenfiguren wurde die Anzahl der Personen auf gerade sechs reduziert. Regisseur Keith Warner schreckt nicht davor zurück, eine Folterung zu zeigen, an deren Ende Herzog Alba die Augen seines wehrlosen Opfers mit einer glühenden Zange aussticht. Zuvor ließ er noch schnell Margarete von Parma ermorden und schließlich bedroht er auch Clara, bei Goethe Klärchen. Und zur Zerstreuung vergnügt er sich mit seinem Sohn Ferdinand auf der Hirschjagd. Das dramaturgische Zentrum und gleichzeitig der Höhepunkt der Oper liegen in der Auseinandersetzung zwischen Alba und Egmont.

Ashley Martin-Davis überschüttet das Publikum mit einer gewaltigen Bilderflut, die jeder möglichen Interpretation offen stand. So wurden gleich zu Beginn einige Vertikaltuchakrobaten in schwarzen Trikots gezeigt, die wohl die schwankenden Seelenzustände der Darsteller andeuten sollen. Große schwarze Papierkraniche warnen zudem eindringlich vor den schrecklichen Ereignissen der Zukunft. Ob diese wohl jene des Dichters „Ibykus“ waren, bleibt zu mutmaßen über. In schräg aufgestellten „Zellen“ werden schließlich Egmont und Clara eingesperrt. Zuvor darf Clara noch in einer Badewanne sitzen und an Suizid zu denken, wobei mich dieses Tableau an das klassizistische Gemälde von Jacques-Louis David „Der Tod des Marat“ (1793) erinnerte. Keith Warner setzt in seiner trotz aller Brutalitäten eher lyrisch gehaltenen Inszenierung eine poetische Klammer in der auf der Bühnenmitte zu Beginn und im Finale auf einem Sessel sitzenden Egmont, dessen Schicksal in aller Öffentlichkeit verhandelt werden soll. Christian Josts Musik ist einer in der Tradition verankerten Moderne verpflichtet. Die Musik zieht den Zuhörer in ihren Bann, manchmal geradezu suggestiv. Als Auflage des Theaters an der Wien sollte sich der Komponisten an Beethovens Orchesterbesetzung halten. Es gibt jedoch keine Pauke bei Jost, dafür aber ein Klavier, Marimbaphon und Vibraphon.

Der unaufhörliche drängende musikalische Fluss der Musik von Jost erinnerte mich vor allem an die Opern von Franz Schreker, Walter Braunfels und Alexander von Zemlinsky. Trotz einiger repetitiver Figuren liegt für mich bei Christian Jost eine gewisse formale Nähe eher zu John Adams als zu Philip Glass vor. Eine Nähe zu Beethoven liegt auch in dessen „Brief an die unsterbliche Geliebte“, die vom Chor mit den Worten „Mein Engel, mein Alles, mein Ich“ in der Art eines Oratoriums sinngemäß abgehandelt wird. Die Oper endet bei Jost nicht mit der Hinrichtung von Egmont, denn dieser wird von Clara mit weißen Engelsflügeln als Jost’scher „Liebestod“ gerade noch verhindert.

Den stärksten Eindruck hinterließ für mich der sadistische, böse Herzog Alba in der Gestalt von Bo Skovhus. Bekanntlich haben es ja die Bösewichte auf der Bühne stets leichter als die Guten. Der litauische Tenor Edgaras Montvidas konnte sich als Graf Egmont, Prinz von Gaure, dem überlegenen Alba doch einige Male mit Verve entgegenstellen und sich sowohl gesanglich als auch darstellerisch behaupten.

Maria Bengtsson in der Rolle der Clara ließ sich zu Beginn der Vorstellung von Roland Geyer krankheitsbedingt entschuldigen, hielt sich aber bis zum Schluss wacker und gesanglich ohne jegliche Abstriche auch in den höchsten Lagen. Angelika Kirchschlager gab eine mehr als lebenslustige und sogar nicht königliche Margarete von Parma, deren schleimiger Sekretär von dem ungarischen Bariton Károly Szemerédy überzeugend interpretiert wurde. Als Albas Sohn Ferdinand wird Theresa Kronthaler zwischen Vaterliebe, der Liebe zu Clara und den Ideen der Revolution rettungslos aufgerieben. Zu erwähnen sind noch die Akrobatentruppe der SHADPERFORMANCE, bestehend aus Walter Holecek, Luis Gustavo, Anderson da Silva, Josef Schützenhofer und Esther Schneider. Die flotte Choreographie besorgte Ran Arthus Braun und für die passende Beleuchtung sorgte Wolfgang Göbbel. Dem von Erwin Ortner geleiteten Arnold Schoenberg Chor kam in dieser Inszenierung die Funktion eines kommentierenden Chores ähnlich wie in der griechischen Antike zu.

Michael Boder breitete am Pult des ORF Radio-Symphonieorchesters Wien einen schwelgerischen, opulenten Klangteppich aus, in dessen Wellen man mit höchster Lust eintauchen konnte. Alle Mitwirkenden wurden mit starkem Applaus bedacht. Meiner bescheidenen Meinung nach hat die „Veroperung“ des Egmont durch Christian Jost diesem sträflich vernachlässigten Werk Goethes zu einer Renaissance verholfen, die ihm durchaus einen fixen Bestandteil im Repertoire – in Form dieser Oper – garantieren könnte. Bravo!

Harald Lacina, 22.2.2020

Fotocredits: Monika Rittershaus