Wien: „Jenůfa“

21.2. (Premiere am 19.2.)

Leoš Janáčeks mährisches Dorfdrama "Jenůfa" beendete die erfolgreiche Ära von Langzeitintendant Roland Geyer. Der Abend hätte eigentlich Kostelnička, die Küsterin, heißen müssen, denn die Regisseurin Lotte de Beer erzählt die düstere tragische Geschichte in packend-erschütternden Bildern aus der Rückschau der Inhaftierten. Gespielt wurde die von Charles Mackerras (1925-2010) und John Tyrrell (1942-2018) rekonstruierte ursprüngliche Brünner Fassung von 1908. Die Rezeptionsgeschichte hat ihre Parallele im Vorspiel zur Oper Ariadne auf Naxos, indem der Komponist schweren Herzens einwilligt, seine Oper, wenn auch in veränderter und gekürzter Form, wenigstens aufgeführt zu wissen. Ähnliches musste der bereits 50-jährige Janáček erfahren, als er der Aufführung der von Karel Kovařovic (1862-1920), dem Direktor des Prager Nationaltheaters, geglätteten sogenannten „Prager Fassung“ zustimmte.

Zu Beginn der Oper sieht man einen schäbigen Gefängnishof, in dem drei Frauen auf dem Boden knien, um diesen zu reinigen (Bühnenbild: Christof Hetzer). Die Küsterin wird in ihre offene Zelle gebracht, wo sie unruhig die weiteren Geschehnisse verfolgt, als ob sie in deren Verlauf noch eingreifen könnte. Sie will nur das Gute, das Richtige tun und übersieht dabei, dass das Gegenteil von „gut“, nicht „schlecht“, sondern „gut gemeint“ ist. Die Kostüme von Jorine van Beek verströmen jenes mährische Flair, wie es im zugrunde liegenden Schauspiel Její pastorkyňa (ihre Ziehtochter) von Gabriela Preissová (1862-1946), das 1890 uraufgeführt wurde, beschrieben wird. Gespannt hatte man auf Nina Stemme als Küsterin gewartet. Und wie der tschechische Titel der Oper, „Ihre Ziehtochter“ bereits nahelegt, stehen im Zentrum dieser Oper die beiden Frauengestalten. Von daher gesehen, ist der später gewählte deutsche Titel der Oper „Jenůfa“ eigentlich irreführend, zumal diese ja keine Titelheldin im eigentlichen Sinn ist, sondern bloß eine Getriebene.

Akteurin ist und bleibt von Beginn an die Küsterin, die ihrer Ziehtochter ein ähnliches Schicksal, wie sie es selbst erleben musste, ersparen möchte. Sie durchlebt alle Ereignisse nochmals, wobei sich in ihre Erinnerung auch Wahnbilder mischen, etwa ein Prozessionszug unheimlicher Perchten, durch Schatteneffekte noch an Bedrohlichkeit gesteigert. Die „Gruppenvergewaltigung“ Jenůfas ist von daher wohl nur ihrer ausufernden Fantasie geschuldet. Sie ist zerrissen zwischen den drei, das gesamte damalige Leben bestimmenden Wertesystemen: Nach dem Urteil der Gesellschaft bedeutet ein uneheliches Kind Schande und Ausgrenzung; nach juristischem Urteil wird Kindsmord in jener Zeit nach alttestamentarischem Vorbild mit Steinigung geahndet und nach göttlichem Urteil, so rechnet wenigstens die Küsterin, würde ihr dieser „Mord“ wegen der Barmherzigkeit Gottes schon vergeben werden. Aber sie kann sich nicht sicher sein, ringt mit sich und weiß, als sie das Kind unter eine Eisscholle in den Fluss legt, dass sie dieses Verbrechen nicht hätte tun dürfen.

Dieses Ringen der Küsterin um eine Lösung für ein „gutes“ Leben ihrer Ziehtochter gestaltete Nina Stemme an diesem Abend derart ergreifend, dass ich im letzten Akt Tränen in den Augen hatte, so sehr hat mich ihre Darstellung berührt. Im Vergleich zu ihr geriet Svetlana Aksenova in der Titelrolle trotz höhensicheren hellen Sopranes darstellerisch etwas ins Hintertreffen, wenngleich man ihr die Wandlung vom leichtlebigen jungen Mädchen zur gereiften erwachsenen Frau ohne jegliche romantischen Vorstellungen schon abnehmen konnte. Pavol Breslik war ein rüpelhafter, egoistischer und überheblicher Števa Burya, Enkel der alten Burya, mit robustem Tenor in Lederjacke und Wolfsfell. Pavel Černoch debütierte als Laca Klemeň mit Brille, Stiefenkel der alten Burya, am Theater an der Wien mit ausdrucksstarkem Tenor. Auf Grund seines attraktiven Aussehens nahm man ihm den unterdrückten, insgeheim Jenůfa Liebenden, nicht wirklich ab, eher noch den versöhnlichen, hingebungsvoll Liebenden am Ende der Oper.

Gesanglich gab es jedoch keinerlei Einwände aus meiner Sicht. Und es gab ein berührendes Wiedersehen mit Hanna Schwarz, der legendären Fricka des Jahrhundertrings (1976) von Patrice Chéreau aus Bayreuth, deren Großmutter Stařenka Buryjovka sie mit viel herzergreifender Wärme und Nachsicht ausgestaltete. Zoltán Nagy unterlegte die Rolle des Altgesellen Stárek mit seinem gutgeführten, profunden Bassbariton. Als Rychtář und Rychtářka waren der ukrainische Bass Alexander Teliga und die Brünner Mezzosopranistin Václava Krejcí Housková zu erleben. Beide gaben ihr erfolgreiches Hausdebüt. Deren Tochter Karolka wurde von der Russin Valentina Petraeva aus dem jungen Ensemble mit hellem Sopran spielfreudig geboten. Anita Giovanna Rosati gefiel in der Hosenrolle des Hirtenjungen Jano mit glockenhellem Sopran, dem Jenůfa das Lesen beibringt. Ferner wirkten noch die polnische Mezzosopranistin Natalia Kawalek als Hirtin Pastorkyňa, die französische Mezzosopranistin Juliette Mars als Magd Barena und Liliya Namisnyk als alte Dörflerin Tetka mit.

Die mährischen Volkstänze im dritten Akt hatte Gail Skrela stimmungsvoll choreografiert. Licht und Videodesign stammten von Alex Brok und Paul Sturminger. Marc Albrecht, der als „Einspringer“ die vorletzte Premiere am Theater an der Wien, „Tosca“, gerettet hatte, konnte an diesem Abend das ORF Radio-Symphonieorchester Wien zu Bestleistungen führen. Der von Erwin Ortner geleitete Arnold Schönberg-Chor, dem in dieser Oper eine zentrale Rolle zukommt, sang und spielte wie immer ausgezeichnet. Es gab zahlreiche Bravi-Rufe für die Protagonisten des Abends, allen voran natürlich Nina Stemme, deren Rollendebüt überzeugend gelungen war, und langanhaltenden Applaus für alle Mitwirkenden und den Dirigenten. Schade nur, dass der ORF diese Produktion nicht auch im Fernsehen zeigt!

Harald Lacina, 22.2.2022

Fotocredits: Herwig Prammer