Wien: „Tosca“

Aufführung am 26.1.2022

Martin Kušejs radikale Abrechnung mit der Konvention

Martin Kušej brach mit dieser Tosca in einer regelrechten „Tour de Force“ brachial mit den Sehgewohnheiten einer Margarethe Wallmanns Inszenierung von 1958 an der Wiener Staatsoper. Vieles ist in seiner Inszenierung Antonin Artauds (1896-1948) „Theater der Grausamkeit“ geschuldet, wiewohl Folter, versuchte Vergewaltigung, Mord und Hinrichtung schon im Libretto und ihm folgend in Puccinis genialer Musik enthalten sind. Kušej wandelt also auf der Fährte von Artauds Theatertheorie, indem er die Aufführung zugunsten des Textes, dem ein geringerer Stellenwert zukommt, in den Vordergrund rückte. Mögen manche Puristen hier die Nase rümpfen, der zeitlose Kern der Handlung, nämlich die Dreiecksbeziehung zwischen Tosca, Cavaradossi und Scarpia bleibt erhalten.

Das Setting von Kušejs Tosca ist eine eiskalte Winterlandschaft (Bühne: Annette Murschetz) im Schneesturm, Symbol für die Kälte und Brutalität der von Polizeichef Scarpia errichteten Schreckensherrschaft. Im Zentrum steht ein abgestorbener Baum an dessen Stamm ein Torso gebunden ist und daneben ein Marienbild. Von den Ästen baumeln abgehackte blutende Gliedmaßen. Im Hintergrund steht ein alter Wohnwagen, der Bayreuths aktueller „Tannhäuser“-Produktion entlehnt sein könnte, und in welchem der Tyrann Scarpia haust. In der Ferne hört man einen Hund bellen, der schließlich einen auf die Bühne geworfenen Unterarm aufhebt und der werfenden, für das Publikum unsichtbaren, Person zurückbringt. Die Verstärkung der omnipräsenten Gewalt und des Grauens in Puccinis Oper gelang Kušej recht gut, nicht jedoch der Gegensatz zwischen Kunst und Kirche, der im Inneren von Sant’Andrea della Valle in konventionellen Inszenierungen vorgeführt wird. Gelungen ist Kušej auch die Einführung der stummen Rolle der Gräfin Attavanti (Sophie Aujesky), die der Maler Cavaradossi heimlich in einem Porträt verewigte, das er vor der eifersüchtigen Tosca zu verbergen sucht. Das Innere des Palazzo Farnese ist in dieser Inszenierung dem Innenraum des Wohnwagens, in dem Scarpia genüsslich Wein trinkt und dem Gesang von Tosca aus dem Radioapparat folgt, gewichen. Elegant in einen Pelzmantel gehüllt, versucht Tosca sich Scarpia hinzugeben, nur um das Leben ihres geliebten Cavaradossi zu retten. Mit mehreren Messerstichen richtet sie ihn und wirft voller Abscheu ein an der Wand hängendes Holzkreuz auf den Boden.

Für den dritten Akt standen Kušej weder eine Engelsburg noch ein Erschießungskommando für Cavaradossi zur Verfügung. Und so wird Cavaradossi ganz einfach von Sciarrone erschossen und Tosca von der Rivalin Gräfin Attavanti. Ende gut – alle tot! In der Titelrolle brillierte, zumindest darstellerisch, die lettische Sopranistin Kristine Opolais. Während sie stimmlich vor allem im ersten Akt zu einer grellen, bisweilen schmerzenden Höhe fand, kehrte im zweiten Akt eine Beruhigung in den dramatischen Szenen mit Scarpia ein und sie konnte mit einigen gesanglich berührenden Passagen das Herz des und die Ohren des Publikums gewinnen. Sein Debut am Theater an der Wien gab der vielversprechende chilenische Tenor Jonathan Tetelman als Mario Cavaradossi, den er bereits an der Opéra de Lille gesungen hatte. Sein abgedunkelter kraftstrotzender Tenor verfügt über eine wahrlich imposante Höhe. Aus Gründen der Sparsamkeit dufte er im dritten Akt auch die Weise des Hirtenknaben singen mit Mezzavoce intonieren. Der ungarische großgewachsene Bass Gábor Bretz kaschierte seinen Zynismus und seine Grausamkeit gekonnt durch seinen eleganten Dreiteiler samt Pelzmantel (Kostüme: Su Sigmund), und durch das helle Timbre seiner Stimme. Stark eingegriffen hat Kušej aber in das übrige Personal der Oper: Der Mesner ist weder lustig noch ein solcher. Später erscheint er mit Hahnenfedern geschmückt als Narr, wie man ihn aus Boris Godunow her kennt, und Sciarrone, der am Ende der Oper, anstelle des Gefängniswärters auftritt, um Cavaradossi schließlich durch einen Genickschuss zu töten.

Diese Vielzahl von Personen verkörperte der spielfreudige polnische Bassist Rafał Pawnuk bei seinem Debut am Theater an der Wien mit sadistischer Leidenschaft. Der russische Bassist Ivan Zinoviev trat als spärlich bekleideter Cesare Angelotti auf, der sich in dieser Inszenierung lediglich hinter dem Baum auf der Bühne anstelle der Kapelle der Attavanti verstecken konnte. Als Polizeiagent Spoletta ergänzte der US-Amerikaner Andrew Morstein mit gutgeführtem Tenor und unterwürfiger Zurückhaltung. Marc Albrecht am Pult des Radio-Symphonieorchesters Wien hatte das Dirigat erst knapp vor der Premiere von dem erkrankten Ingo Metzmacher übernommen und brach mit Hörgewohnheiten. So brutal und brüchig hat man Puccinis Meisterwerk wohl selten gehört, aber diese musikalische Interpretation passte wenigstens zu den brutalen Vorgängen auf der Bühne. Der von Erwin Ortner geleitete Arnold Schoenberg Chor ersetzte in dieser Inszenierung auch die nicht vorhandenen Kinder, die um keinen Mesner herumhüpfen durften.

Am Ende der Vorstellung gab es keinerlei Buhs, auch wenn sich Martin Kusej nicht verbeugt hatte. Das Publikum schien die Lesart von Kusej trotz oder gerade wegen seiner radikalen Eingriffe – insgesamt – doch zu goutieren. Für die Sänger und den Dirigenten gab es zustimmenden Applaus mit Bravi-Rufen für das Trio Bretz, Opolais und besonders für Tetelman. Resümee des Rezensenten: Diese Produktion ist durchaus sehens- und hörenswert, schon um der Überprüfung der eigenen oft überkommenen Hör- und Sehgewohnheiten wegen.

Harald Lacina / 27.01.2022

© der Fotos: Monika Rittershaus