Gemäßigter Konwitschny
Premiere: 20. 9. 2014
Auf das Wesentliche reduziertes psychologisches Kammerspiel
Eine Co-Produktion mit der Oper Graz, wo am 29. 3. 2014 Premiere war, stellt die Neuinszenierung von Janaceks „Jenufa“ am Theater Augsburg dar. Um es vorwegzunehmen: In szenischer Hinsicht war es ein in jeder Hinsicht gelungener Abend. Das ist indes kein Wunder, denn am Regiepult hatte kein Geringerer als Peter Konwitschny Platz genommen. Dass es dem kleinen Theater Augsburg gelungen ist, diesen hochkarätigen Regisseur, der sonst an den größten Opernmetropolen seine herausragenden Deutungen präsentiert, in die Fugger-und Brecht- Stadt zu locken, ist erstaunlich. Offenbar ist der neue Geschäftsführende Leiter des Musiktheaters Georg Heckel, der aus Darmstadt nach Augsburg gewechselt ist, darauf bedacht, seinem neuen Haus, das bisher eher konventionell geprägt war, einen modernen Anstrich zu geben, was sehr zu begrüßen ist. So hat er für diese Saison neben Konwitschny beispielsweise mit Lorenzo Fioroni noch einen weiteren erstklassigen Vertreter zeitgenössischer Regiekunst gewinnen können. Auf den weiteren szenischen Kurs des Augsburger Theaters in den folgenden Jahren kann man schon gespannt sein.
Elisabeth Hornung (Alte Buryja), Kerstin Descher (Küsterin), Sally du Randt (Jenufa)
Wie immer ist Konwitschny voll in seinem Element. Indes wartet man auf die von ihm gewohnten radikalen Verfremdungen und sonstigen Provokationen dieses Mal vergeblich. Er aktualisiert nichts, sondern siedelt die Handlung zusammen mit seinem Bühnen- und Kostümbildner Johannes Leiacker in der Entstehungszeit des Werkes an. Die Kleider der Handlungsträger sind jedenfalls dieser Epoche zuzuordnen. Man möchte es fast nicht glauben, aber Konwitschny hat sich eine Mäßigung auferlegt. Er inszeniert das Werk gänzlich ohne irgendwie geartete Verfälschungen, wobei er gekonnt eine Reduktion auf das Wesentliche vornimmt. Ein Tisch, mehrere Stühle und ein Bett genügen ihm. An, in und um diese Stätten der Begegnung herum spielt sich das gesamte Geschehen ab. Die Enge dörflicher Begrenzt- und Beschränktheit weicht bei Konwitschny einer einnehmenden Weite, die von Akt zu Akt anders gestaltet ist. Den ersten Aufzug siedelt er auf einer Wiese an, den zweiten auf einem Schneeboden. Das Frühlingserwachen im dritten Akt schließlich wird durch zahlreiche gelbe Krokusse versinnbildlicht. Dieses Verfahren Konwitschnys kennt man schon. Bei seiner Interpretation von Verdis „La Traviata“, die in Graz, Nürnberg und Wien zu sehen war, ging er in puncto Ausstattung sogar noch knapper vor.
Ji-Woon Kim (Steva), Kerstin Descher (Küsterin)
Auch bei der „Jenufa“ bewährt sich diese Vorgehensweise. Kein überflüssiger Pomp lenkt von den zwischenmenschlichen Beziehungen ab, die vom Regisseur mit ungeheurer Stringenz herausgearbeitet werden. In Sachen ausgefeilter spannender Personenführung ist Kontwitschny schon immer ein Meister seines Fachs gewesen. Er formt die verschiedenen Charaktere mit ungeheurer Brillanz stark und eindringlich. Um die Hauptcharaktereigenschaften der beteiligten Personen herauszustellen, benötigt er nicht einmal viel Zeit. So wird einem gleich im ersten Bild klar, dass es sich bei Laca um einen recht aggressiven Typ handelt, der reichlich grimmig mit seinem Messer einen Stock nicht eben sanft bearbeitet. Seine guten Seiten werden später aber ebenso überzeugend vorgeführt. Ebenso weiß man auch beim erstmaligen Auftritt der mit einem hochgeschossenen schwarzen Kleid auftretenden, streng puritanisch wirkenden Küsterin gleich, dass man es hier mit einer Person zu tun hat, deren hartes, strenges Wesen von der Lieblosigkeit ihres verstorbenen Mannes und den von ihr ersehnten, von ihm aber verweigerten Streicheleinheiten herrührt. Sie ist eindeutig die stärkste Figur des Stückes. Da kann Jenufa mit ihrem schlichten, verhaltenen Wesen nicht ganz mithalten, auch wenn sie im Laufe des Abends durch ihre Entwicklung zu einer großen Verzeihenden noch stark an Konturen gewinnt. Etwas angeheitert wird der dramatische Kontext im dritten Aufzug durch die komische Elemente einbringende Frau des Richters.
Sally du Randt (Jenufa), Kerstin Descher (Küsterin)
Bei Konwitschny gerät Janaceks Oper zu einem dramatischen psychologischen Kammerspiel, das ganz auf die Handlungsträger zugeschnitten ist. Das Damoklesschwert gesellschaftlicher Ächtung schwebt indes über sämtlichen Beteiligten. Es ist die Furcht, die alle beherrscht, die Küsterin, aber insbesondere auch die alte Buryja, die die von ihr verinnerlichten Werte einer aus dem Katholizismus herrührenden fragwürdigen Doppelmoral an ihre Nachfahren weitergegeben hat und deren Übertretung sie nicht duldet. Sie erscheint als Vertreterin einer bigotten Gemeinschaft, die in traditionellen Verhaltensmustern erstarrt und unfähig zur Weiterentwicklung ist. Auch Mitgefühl scheint hier keinen Platz zu haben. Wenn Jenufa am Ende des ersten Aktes verwundet am Boden liegt, ist keiner der Umstehenden bereit, ihr zu Hilfe zu kommen – ein starkes Bild. Hier haben wir es augenscheinlich mit einem Generationenproblem zu tun.
Ensemble, Chor
Nicht die Titelfigur ist es aber, die unter den Verhältnissen am meisten zu leiden hat, sondern die Küsterin, deren Lebensfundament zusammenbricht. Konwitschny zeichnet sie sehr eindringlich: furchteinflößend, aber auch menschlich. Sie sehnt sich danach, aus den vorgegebenen Verhaltensmustern ausbrechen zu können. Für ihr Enkelkind, dem sie die Flasche gibt, scheint sie Gefühle zu entwickeln – genau wie Steva, der, seinen Sohn im Arm haltend, emotional sehr betroffen ist und schließlich sogar zu weinen beginnt. Wenn sich die Küsterin am Ende des zweiten Aktes schließlich verzweifelt das Kleid vom Leib reißt und bei einsetzendem Schneetreiben auf dem Tisch zusammenbricht, ist das einer der stärksten Momente der Produktion. Konwitschny hat schon immer gewusst, wie er das Publikum fesseln kann. Das wird auch bei Jenufas Arie im zweiten Akt deutlich, in der er die Geigerin Jehye Lee auf der Bühne erscheinen und in ein eindringliches Wechselspiel zu der Protagonistin treten lässt. Während ihres Violinsolos, das sie mit wunderbar gefühlvollem, innigem Ausdruck spielt, wird sie für Jenufa zu einer warmherzigen Trösterin, die sich ihrer annimmt und ein offenes Ohr für ihre Sehnsüchte und Nöte hat. Diese Szene erinnert stark an den dritten Aufzug von Konwitschnys Münchner „Tristan“-Inszenierung, wo der sterbende Held während seines Deliriums Besuch von zwei Musikern beiderlei Geschlechts aus dem Orchestergraben erhält, die sich schließlich als seine Eltern entpuppen. Es gehört nicht viel dazu, in der sich liebevoll um Jenufa kümmernde Geigenspielerin ihre verstorbene Mutter zu erkennen, die die Gefilde des Jenseits verlässt, um ihrer verzweifelten Tochter beizustehen – ein ungemein stimmiger und tief berührender Einfall, der Konwitschny alle Ehre macht. Das war der Höhepunkt des Abends, der mit einer für den Regisseur typischen Überraschung endete. Nachdem die Küsterin abgeführt wurde, sinkt auf einmal der Vorhang. Hier ist das Stück für Konwitschny zu Ende. Das abschließende Duett des durch einen schmalen Spalt des Vorhangs noch einmal hervortretenden Liebespaares deutet er als Epilog, den er mit einem Fragezeichen versieht. Während Jenufa hoffnungsvoll einer gemeinsamen Zukunft entgegenblickt, bleibt Laca skeptisch. Sein fragender Gesichtsausdruck belegt, dass er an eine Besserung der Verhältnisse nichts so recht glaubt. Ob die Gesellschaft aus dem Geschehen etwas gelernt hat, bleibt offen. Da die Krokusse jetzt symbolhaft zertreten sind, ist das eher nicht anzunehmen.
Ensemble, Chor
Gespielt wird in Augsburg die Brünner Originalfassung von 1908. Das war eine gute Entscheidung, denn die der Spätromantik verhafteten Glättungen, die der Prager Dirigent Karel Kovarovic an der Partitur vornahm, haben diese nicht unerheblich verfälscht. Gegenüber der das Schwelgerische der Musik betonenden Bearbeitung wirkt das Original ungleich härter. Konsequenterweise setzt auch Dirk Kaftan am Pult zusammen mit den gut disponierten Augsburger Philharmonikern vorwiegend auf einen markanten, schroffen Klang, den er mit ausgeprägten Spannungsbögen und einer Vielfalt an spezifischen Coleurs anreichert. Dabei geht er sehr differenziert und nuancenreich ans Werk und schenkt auch untergeordneten Stimmen mehr Aufmerksamkeit, als es andere Pultmeister bei dieser Oper zu tun pflegen.
Gesanglich konnte man insgesamt zufrieden sein. Sally du Randt hat die Entwicklung der Jenufa darstellerisch glaubhaft aufgezeigt und sowohl das Naive als auch das Erschütternde ihrer Rolle gleichermaßen intensiv ausgespielt. Auch stimmlich vermochte sie mit ihrem gut sitzenden, emotional und höhensicher geführten jugendlich-dramatischen Sopran zu überzeugen. Zumindest in schauspielerischer Hinsicht übertroffen wurde sie von Kerstin Descher, die die expressiven Ausbrüche der Küsterin mit einer ungeheuren Intensität und großer darstellerischer Kraft bewältigte. Stimmlich hat sie mit ihrem ansprechenden, ausdrucksstarken und expansionsfähigen Mezzosopran den Anforderungen der Rolle ebenfalls voll entsprochen. Schönes, weiches und dunkel gefärbtes Tenormaterial brachte Mathias Schulz für den Laca mit. Als Steva war Ju-Woon Kim manchmal kaum zu hören, was sich wohl seiner nicht allzu großen, meistens flach geführten Stimme verdankt. Bei seinem Ausbruch gegenüber der von Cathrin Lange mit schönem appoggiare la voce kraftvoll gesungenen Karolka im dritten Akt gelang ihm indes auch mal eine schön im Körper gestützte Phrase. Elisabeth Hornung hatte als alte Buryja ihre besten Zeiten hinter sich. Nur einen Hauch von dünner Stimme wies der Jano Samantha Gauls auf. Solide sang Stephen Owen den Altgesell. An Sonorität seines Basses war ihm Daniel Henriks in der kleinen Partie des Richters überlegen. Aus seiner Frau machte Stephanie Hampl mit köstlichem Spiel und angenehmem Mezzosopran ein echtes Kabinettstückchen. Tadellos entledigten sich Jutta Lehner (Schäferin) und Andrea Berlet (Barena) ihrer nicht sehr umfangreichen Aufgaben. Susanne Simenec (Tante/Erste Stimme) und André Wölkner (Zweite Stimme) rundeten das Ensemble ab. Ordentlich schnitt der von Katsiaryna Ihnatsyeva-Cadek einstudierte Chor und Extrachor ab.
Fazit: Nicht nur für Konwitschny-Fans eine empfehlenswerte Aufführung. Die Fahrt nach Augsburg lohnt sich.
Ludwig Steinbach, 22. 9. 2014 Die Bilder stammen von A. T. Schaefer