Augsburg: „Pelléas et Mélisande“

Besuchte Aufführung: 19. 4. 2014 (Premiere: 15. 3. 2014)

Frauenemanzipation in einer dekadenten Familie

Sie ist nicht gerade ein Publikumsmagnet, aber eines der eindrucksvollsten Erzeugnisse des Musiktheater-Repertoires: Claude Debussys auf einem Drama des belgischen Literaturnobelpreisträgers Maurice Maeterlinck beruhende Oper „Pelléas et Mélisande“. In den vergangenen Jahren war das Werk u. a. in Frankfurt und Stuttgart zu sehen gewesen. Jetzt hat sich das kleine Theater Augsburg diesem selten gespielten Stück angenommen und konnte damit in jeder Beziehung einen Volltreffer landen. Wieder einmal wurde deutlich, dass gerade an den sog. kleinen Häusern oft die besten Aufführungen stattfinden.

Yona Kim geht es in ihrer gelungenen Inszenierung nicht um vordergründige konventionelle Schauerromantik. Sie deutet das Geschehen ganz aus dem Inneren der Handlungsträger heraus und nimmt deren Handlungen und Befindlichkeiten gekonnt unter die psychoanalytische Lupe. Demgemäß setzt sie nicht auf pure Action, sondern auf die gewissenhafte Herausarbeitung von Seelenzuständen unter Berücksichtigung Freud’scher Erkenntnisse. Dabei geht sie sehr präzise vor. Die Personenregie ist insgesamt ausgefeilt und überzeugend und wird dem innovativen Gehalt des Ganzen voll gerecht. Freuds Analyse des Unterbewussten misst sie bei ihrer Regiearbeit zentrale Relevanz zu. Das ist durchaus stückimmanent und schon von Debussy und Maeterlinck in dieser Form angelegt. Damit entsprachen sie ganz dem Geist des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Immerhin breiteten sich gerade zur Entstehungszeit des 1902 an der Opéra-Comique in Paris aus der Taufe gehobenen „Pelléas“ die bahnbrechenden Lehren des Wiener Psychoanalytikers überall aus. Ist er vielleicht der Arzt, der bereits zu Beginn zu sehen ist? Angesichts des großen Interesses, mit dem seine Theorien überall aufgesogen wurden, ist es nicht weiter verwunderlich, dass sie auch bald den Weg auf die Opernbühne fanden.

Insofern kann man Frau Kims Ansatzpunkt trotz eines modernen, die 1960er Jahre abbildenden Rahmens als ausgesprochen werktreu bezeichnen. Mit ihrer klug durchdachten, tiefschürfenden Interpretation hat sie den Kern des Stoffes messerscharf getroffen. Auf eindringliche Art und Weise zeichnet sie das Bild einer dekadenten, von Saskia Rettig modern eingekleidete Adels-Familie, die nur noch beim gemeinsamen Mahl eine ihrem Stand angemessene Haltung bewahrt, ansonsten aber sehr fragwürdige Züge aufweist. Allemonde ist ein Haus des Todes, das schon bessere Zeiten gesehen hat. Der von Christian Schmidt entworfene Einheitsbühnenraum nach Art des Fin de siècle wirkt heruntergekommen, kalt und schmutzig. An den einstigen Glanz der altehrwürdigen Familienresidenz, die dringend renovierungsbedürftig ist, erinnert nicht mehr viel. Man wartet auf das Ende. Alles atmet Tod und Untergang, was nicht zuletzt durch eine absterbende Zimmerpflanze trefflich versinnbildlicht wird. Die Bewohner sind allesamt treffliche Kandidaten für die Psycho-Couch. Ihr Schicksal ahnend haben sie sich ein entsprechendes Möbelstück auch schon zugelegt. Alle leiden sie unter tiefen psychischen Wunden. Der betagte König Arkel, von der Regie in seiner Altersschwachheit bewusst etwas überzeichnet, kann seiner Führungsposition, debil wie er ist, strenggenommen überhaupt nicht mehr gerecht werden. Er hat die Macht an seinen Enkel Golaud abgegeben, der wohl aufgrund eigener unangenehmer Erfahrungen als Kind im Umgang mit seinem Vater und Großvater Freude daran hat, seinen Sohn aus erster Ehe Yniold psychisch zu drangsalieren. Es ist durchaus nicht ausgeschlossen, dass er seinen Sprössling auch missbraucht hat. Dieser ist kein gewöhnliches, sondern ein ausgesprochen verhaltensgestörtes Kind. Gewaltsam in die Opferrolle gedrängt, hat der kleine Prinz bereits in jungen Jahren einen ziemlich verschlagenen Charakter entwickelt. Mit einer goldenen Kugel huldigt er seinem Lieblingsmärchen „Der Froschkönig“. Geneviève entspricht ebenfalls nur noch äußerlich einer feinen Lady. Innerlich kann sie den Schein wenig gut aufrechterhalten. Es ist nicht nur die durch Schneetreiben verursachte äußere, sondern auch die verbreitete innere Kälte unter den Angehörigen der Allemonde-Dynastie, die sie stark frösteln lässt. Die zwischenmenschlichen Beziehungen haben stark gelitten und sind nur noch rudimentär vorhanden.

Es ist schon eine ausgeprägte Familienhölle, die die Regisseurin dem Zuschauer hier nachhaltig vor Augen führt. Das einzige Clanmitglied, das es in diesem Inferno nicht mehr aushält, ist der reichlich infantil und ängstlich wirkende Pelléas, der mit Rucksack und in Reisekleidung ständig auf Flucht bedacht ist. Er ist genauso ein Außenseiter wie das Zigaretten rauchende Partygirl Mélisande, die ihre zu Beginn noch recht legere Kleidung samt Sonnenbrille zwar rasch mit einem ihrer neuen Stellung als Golauds Frau eher entsprechenden schicken Outfit vertauscht und auch mal eine braune Perücke über ihr blondes Haar streift, sich in ihre neue Lebenswelt aber in keinster Weise einfinden kann. Diese Messaliance kann nicht gut gehen. Das wird zunehmend auch Golaud bewusst, dem es nicht gelingt, seine Frau innerlich an sich zu binden und seine Zuflucht deshalb in Gewalttätigkeiten sucht. Neben solchen Freud’schen Ersatzhandlungen ist er zunehmend auch auf äußere Bindungszeichen fixiert, wie beispielsweise den dramaturgisch wichtigen Ehering. Er ist ein Musterbeispiel seines Standes.

Die femme fragile Mélisande passt nicht in das System. Sie ist und bleibt eine Außenstehende. Und genau dieser Aspekt ist es, der sie sich schließlich ihrem Schwager und Leidensgenossen Pelléas zuwenden lässt. Sie weiß, was sie will, und hat nicht die Absicht, sich dem familiären Joch unterzuordnen. Dem sie einengenden gesellschaftlichen Zwang begegnet Mélisande mit trotziger, unablässiger Selbstbehauptung. Sie will sich partout nicht in die familiäre Zwangsjacke stecken lassen und geht nachhaltig auf Konfrontationskurs. Als Sinnbild ihres Widerstandes fungiert das blaue Kleid, das sie bis zuletzt trägt. Hier bringt Yona Kim auf treffliche Art und Weise die Emanzipation der Frau mit ins Spiel, die ja ebenfalls um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ihren Anfang nahm – noch ein Regieaspekt, der ganz aus der Zeit Debussys heraus begründet ist und großen Sinn macht, auch wenn die Königsfamilie dieses aufmüpfige Verhalten Mélisandes natürlich alles andere als positiv beurteilt. Da prallen oftmals Perspektiven, die sich nicht miteinander vereinbaren lasen, mit großer Rasanz aufeinander. Es sind aber gerade die verschiedenen Ebenen der Wahrnehmung, aus denen die Inszenierung rein visuell ihren großen Reiz zieht. Immer wieder verschmelzen Wirklichkeit und Traum miteinander. Wenn sich der Raum immer wieder nach hinten hin öffnet und erweitert, tut sich eine zweite, den Köpfen der beteiligten Personen entspringende surreale Handlungsebene auf, die das genaue Gegenteil der Realität ist. In diesem neu entstandenen Psychoraum offenbaren sich in oft von Doubles ausgeführten Parallelhandlungen die geheimsten Wünsche und Sehnsüchte der Protagonisten. Teilweise mimen aber auch die Sänger mehrere Gestalten. So gibt es beispielsweise eine innere, echoartig aus dem Off ertönende Stimme Mèlisandes, die sich aber auch durch den Mund von Yniold artikuliert. Desweiteren träumt sich Arkel einmal in die kleine Rolle des Schäfers. Die verschlungenen seelischen Irrwege werden durch diese Vorgehensweise der Regisseurin gut versinnbildlicht. Die Sehnsucht der Liebenden nach einem anderen, besseren Leben, wird offenkundig. Der Weg dahin wird aber nicht gewiesen. Dem entspricht es, dass Frau Kim der hier an den Tag gelegten Gratwanderung zwischen Traum und Wachen ganz im Einklang mit den Intentionen Debussys ihren symbolhaften Charakter belässt. Insgesamt geht es bei ihr wenig eindeutig zu. Vielmehr kommt es ihr auf die Eröffnung weiter Assoziationsfelder an, die dem Zuschauer Raum für eine eigene Auslegung des Gesehenen lassen. Dieses Konzept ist voll aufgegangen und stellt einen wesentlichen Beitrag zur Rezeptionsgeschichte des Werkes dar.

Gesanglich bewegte sich die Aufführung auf hohem Niveau. Erneut wurde offenkundig, über was für ein erstklassiges Sängerensemble das Theater Augsburg doch verfügt. Das begann schon bei Cathrin Lange, die sich als in jeder Beziehung ideale Mélisande erwies. Bereits darstellerisch durch ihr intensives Spiel sehr ansprechend, war es aber in erster Linie ihr makelloser, hervorragend italienisch fundierter und in jeder Lage einfühlsam und geschmeidig geführter Sopran, mit dem sie sich nachhaltig in die Herzen des Publikums sang, dass dann auch mit Applaus nicht geizte. Neben ihr vermochte insbesondere Dong-Hwan Lee zu begeistern, der den Golaud nicht nur ausdrucksstark spielte, sondern mit einem ausgesprochen sonoren, voll und rund klingenden, ebenfalls bestens italienisch gestützten Stimmklang auch vokal ein glaubhaftes Profil verlieh. Das hohe Niveau dieser beiden erreichte Giulio Alvise Caselli als Pelléas nicht ganz. Zwar sang er solide im Körper und erreichte auch die bis zum hohen ‚a’ reichenden Spitzentöne. Im Augenblick fehlt es seinem lyrischen Bariton aber noch etwas an vokaler Durchschlagskraft und Intensität. Das wird aber schon noch kommen. Einen profunden Bass, der nur in der Höhe etwas gewichtiger hätte klingen können, brachte Vladislav Solodyagin für den Arkel und den Hirten mit. Mit ausgeglichenem, sonorem Mezzosopran gestaltete Jennifer Arnold die Geneviève. Nicht ganz glücklich war ich über die Idee der Theaterleitung, den Yniold mit einer Kinderstimme zu besetzen. Der junge Nicolas Schwandner schlug sich zwar recht wacker, klang aber ziemlich dünn. Die Teile seiner Partie, die regiebedingt der Sängerin Stephanie Hampl anvertraut waren, die auch die 2. Melisande sang, machten aufgrund deren tiefgründigen Soprantöne erheblich mehr Eindruck. Solide war der Arzt von Stephen Owen. Vorzüglich schnitt der von Katsiaryna Ihnatsyeva-Cadek gewissenhaft einstudierte Chor ab.

Vollauf zufrieden sein konnte man auch mit der Leistung von Roland Techet am Pult. Er präsentierte zusammen mit den bestens disponierten Augsburger Philharmonikern Debussys Musik in all ihrer Bandbreite und Vielschichtigkeit mit ausgeprägter Raffinesse und kammermusikalischem Feinschliff. Es gelang ihm vortrefflich, die Konturen von Debussys Klangkosmos differenziert und farbenreich aufzufächern und dem Ganzen eine schöne Transparenz zu geben, was dem Gesamtcharakter des Werkes sehr entgegenkam. Im Laufe des Abends gewann sein Dirigat zunehmend an Spannung und wies zudem markante Akzente auf.

Fazit: Eine in jeder Beziehung hochkarätige Aufführung, die als Aushängeschild für das Theater Augsburg dienen kann und deren Besuch jedem Opernfreund sehr ans Herz gelegt wird.

Ludwig Steinbach, 23. 4. 2014 Die Bilder stammen von A. T. Schaefer.