Augsburg: „Wozzeck“

Besuchte Aufführung: 12.4.2015 (Premiere: 7.3.2015)

Das Spiel kann von neuem beginnen

Mit der Neuproduktion von Bergs „Wozzeck“ hat der seit einiger Zeit zunehmend moderne szenische Kurs des Theaters Augsburg erneut eine eindrucksvolle Bestätigung erfahren. Was an diesem gelungenen Abend geboten wurde, war packendes zeitgenössisches Musiktheater vom Feinsten.

Sally du Randt (Marie), Robin Adams (Wozzeck), Marcel Philippin (Mariens Knabe)

Regisseur Ludger Engels, der dem Augsburger Publikum noch von seiner letztjährigen „Intolleranza 1960“-Produktion ein Begriff sein dürfte, hat die Handlung in die 50er Jahre des letzten Jahrhunderts transferiert und mit einer intensiven, schlüssigen Personenregie einfühlsam vor den Augen des Zuschauers ausgebreitet. Immer neue, von Ric Schachtebeck kreierte Räume – er zeichnete auch für die gelungenen Kostüme verantwortlich – ziehen mit Hilfe der emsig rotierenden Drehbühne vorbei. Es manifestiert sich ein Stationendrama, wobei das soldatische Element völlig ausgeblendet wird. So entstammen der Hauptmann und der Tambourmajor dem Bürgertum. Ausgehend von der Erkenntnis, dass die mit enormem sozialem Sprengstoff aufgeladene Geschichte heute in einem militärischen Ambiente nicht mehr funktionieren würde, hat er das dramatische Geschehen kurzerhand in einen gesellschaftlichen Kontext gestellt. Diesen hat er mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln kritisch hinterfragt und dabei klargestellt, dass die Art und Weise, wie einzelne Menschen gemobbt und schikaniert werden, zu jeder Zeit dieselbe ist. Nur der sich den Bedürfnissen der jeweiligen Gemeinschaft anpassende äußere Rahmen ist von Ära zu Ära zeitspezifischen Wandlungen unterworfen.

Robin Adams (Wozzeck), Sally du Randt (Marie), Carlos Aguirre (Tambourmajor)

Wozzeck fügt sich in die Gemeinschaft nur schwer ein. Als geknechtetes, gedemütigtes und schikaniertes Individuum hat der dem Kollektiv nichts entgegenzusetzen. Was auf den ersten Blick noch harmlos aussieht, wie beispielsweise die Spritze, die ihm der Doktor in den Allerwertesten gibt, oder der Kniff ins Hinterteil, den ihm der Hauptmann – am Anfang verabreicht Wozzeck ihm eine Maniküre – verpasst, kann in der Summe schließlich schlimme Resultate nach sich ziehen. Mit ungeschönter Krassheit zeigt Engels die Folgen auf, die es haben kann, wenn ein Einzelner von den anderen nicht als das akzeptiert wird, was er ist, sondern stets nur ausgenutzt wird. Da kann ein Opfer auch mal zum Täter werden.

Carlos Aguirre (Tambourmajor), Sally du Randt (Marie), Statisterie

Die immer wieder die Bühne überquerenden Mitglieder der Gesellschaft nehmen von Wozzeck, der irritiert um sich schaut und um Aufmerksamkeit fleht, keine Kenntnis. Auch seine Liebe zu Marie bringt ihm keine Befriedigung. Er lebt mit ihr und seinem kleinen Sohn zusammen in einer nicht wirklichen Idylle. Hier wird heile Familie gespielt, aber der Schuss geht nach hinten los. Teilnahmslos beobachtet Wozzeck, wie Marie sich um das Kind kümmert, und zwar an einer Stelle, wo Berg ihm eigentlich gar keinen Auftritt zugebilligt hat. Man merkt, mit Tschechow’schen Elementen kann der Regisseur umgehen. Immer stärker stößt er den Protagonisten ins gesellschaftliche Abseits und lässt ihn zum Außenseiter werden. Sein existentielles Problem besteht indes nicht nur in den Schikanen der Gesellschaft, sondern auch in seiner von Engels dezent angedeuteten Homosexualität, die ja in den 1950er Jahren noch unter Strafe gestellt war. Marie und das Kind haben für ihn jedenfalls auch eine Alibifunktion, die ihn schützen soll, wegen seiner sexuellen Neigungen belangt zu werden. Manchmal kann er es in der Nähe von Menschen nicht mehr aushalten und zieht sich in einen aus hölzernen Latten bestehenden Kubus als Schutzraum zurück, den er mit Zellophanfolie umwickelt. Nachdem er Marie getötet und sie in dem Kubus auf den Boden gebettet hat, stirbt er einen symbolischen Tod und hüllt sich selbst in Folie ein. Das Gleiche tut der Sohn mit seinem Schaukelpferd. Gleich seinem Vater wird nun auch er von den anderen Kindern schikaniert. Ihm wird es genauso ergehen wie Wozzeck. Auch er wird ein Opfer der Gesellschaft werden und vielleicht ebenfalls als Mörder enden. Das ist in einem ewigen Kreislauf der Welt, wie er von der Drehbühne versinnbildlicht wird, so angelegt, Das Spiel kann von vorne beginnen – ein eindringliches, sehr pessimistisches Ende.

Robin Adams (Wozzeck), Sally du Randt (Marie)

Auf insgesamt hohem Niveau bewegten sich die gesanglichen Leistungen. Allen voran Robin Adams, der sich als ausgezeichneter Vertreter des Wozzeck erwies. Das Getriebene, Gehetzte der unter der gesellschaftlichen Acht stark leidenden Titelfigur hat er mit intensivem Spiel und großer darstellerischer Energie trefflich vermittelt. Auch stimmlich vermochte er mit seinem bestens italienisch geführten, edel timbrierten und nuancenreich eingesetzten hellen Bariton zu begeistern. In nichts nach stand ihm Sally du Randt, die der Marie schon schauspielerisch voll entsprach. Auch vokal vermochte sie mit bestens fokussiertem jugendlich-dramatischem Sopran, der zudem über viele Nuancen und Farben verfügt, für sich einzunehmen. Mit sauber durchgebildetem, kräftig und prägnant eingesetztem Tenor sang Carlos Aguirre den Tambourmajor. Mit tieferer Stütze, als man es bei dieser Charakterrolle sonst gewohnt ist, gab Mathias Schulz den Hauptmann. Vladislav Solodyagin brachte einen ebenmäßig geführten, solide ansprechenden Bass für den Doktor mit. Ein tiefgründig geführter Mezzosopran zeichnete die Margret von Kerstin Descher aus. Ziemlich klanglos und stark im Hals sang Eckehard Gerboth den ersten Handwerksburschen. Da war ihm der voll und rund singende zweite Handwerksbursche von Giulio Alvise Caselli um einiges überlegen. Lediglich mittelmäßig schnitt Oliver Scherer als als Transvestit gezeichneter Narr und 1. Tenor ab. In der kleinen Rolle des Soldaten war Oliver Marc Gilfert zu erleben. Ein Extralob geht an den jungen Marcel Philippin, der Mariens Knaben gut verkörperte. Gute Leistungen erbrachten der von Katsiaryna Ihnatsyeva-Cadek einstudierte Chor und Extrachor des Theaters Augsburg und die Augsburger Domsingknaben.

Robin Adams (Wozzeck)

Gut vermochte Roland Techet am Pult zu gefallen, der Bergs Musik zusammen mit den versiert aufspielenden Augsburger Philharmonikern in klangfarblicher und dynamischer Hinsicht trefflich aufbereitete und im Verlauf des Abends mit immer mehr Facetten aufwartete. Die Leitmotive wurden gut herausgearbeitet und das Ganze mit enormem dramatischem Impetus dargebracht.

Fazit: Wieder einmal eine Aufführung, die die Fahrt nach Augsburg voll gelohnt hat und deren Besuch durchaus zu empfehlen ist.

Ludwig Steinbach, 14.4.2014

Die Bilder stammen von A. T. Schaefer