Augsburg: „La Bohème“

Brillante Inszenierung

Vorstellung vom 8. 1. 2014 (Premiere: 19. 1. 2013)

Schimäre für ein verschenktes Leben

Um es vorwegzunehmen: Diese Produktion von Puccinis „La Bohème“ stellt einen absoluten Glanzpunkt im Repertoire des Theaters Augsburg dar. Der Besuch der Aufführung ist jedem Opernfreund dringendst zu empfehlen! Regie, gesangliche und musikalische Leistungen vereinten sich an diesem gelungenen Abend zu einer glanzvollen Symbiose, die geeignet war, Begeisterung hervorzurufen. Wieder einmal hat sich mein Wahlspruch „Verachtet mit die kleinen Häuser nicht“ voll und ganz bestätigt.

Rodolfo, Mimi

Ein Volltreffer war bereits die Inszenierung, mit der das eher konventionell ausgerichtete Theater Augsburg in die Sphären von modernem, spannendem Musiktheater vordrang – ein szenischer Kurs, der auch für die Zukunft sehr wünschenswert wäre. Regisseur Thorleifur Örn Arnarsson, dessen geniale, ungewöhnliche „Fledermaus“ in der letzten Spielzeit die Augsburger Gemüter ganz schön erhitzt hatte, hat das Stück hervorragend durchdacht und mit seiner auch technisch versierten Umsetzung den neugierigen Intellekt voll und ganz befriedigt. Weit entfernt von jeder traditionellen, oberflächlichen Süßlichkeit und kitschiger Herzschmerzromantik rückt er das Ganze gekonnt auf eine überzeugende geistig-innovative Ebene. Es sind ihn erster Linie die psychologischen und sozialkritischen Aspekte der Handlung, die ihn interessieren und die er in Zusammenarbeit mit Jósef Halldórsson (Bühnenbild) und Filippia Elísdóttir (Kostüme) einer tiefschürfenden Beleuchtung unterzieht. Es ist ein gelungener Spagat zwischen innerer und äußerer Handlung, die Arnarsson hier vorführt, wobei er das Geschehen immer mehr ins Surreale abdriften lässt. Zunehmend verschmelzen Realität und Imagination miteinander. Grotesk anmutenden Elementen, die im Gesamtgefüge der Inszenierung durchaus logisch platziert sind, wird Tür und Tor geöffnet. Dabei ist der Regisseur nicht auf Provokation bedacht, sondern auf eine Interpretation von innen heraus. Ihm ist das Kunststück gelungen, das Werk zu modernisieren und seine Aussage dabei auf eindringliche Art und Weise zu intensivieren. Das Ergebnis ist sehr stimmiger Natur.

Cathrin Lange (Musetta), Chor

Arnarsson setzt bei seiner Interpretation in der Entstehungszeit der Oper an und deutet das Ganze aus dem allgemeinen Lebensgefühl des damaligen Künstler-Proletariats heraus, das die Lehren seines Götzen Karl Marx begierig aufgesaugt hat und auf die karitativen Wohltätigkeitsprogramme eines Steve Jobs wartet. Diese beiden Namen stehen für das Überzeitliche einer Mentalität, die damals wie heute dekadente Züge aufweist und deren vordergründiger Frohsinn nur Fassade ist. Die Welt hat sich den Bohèmiens verschlossen. Gefangen in ihrer öden kargen Mansarde leben sie als Außenseiter. Von der Öffentlichkeit abgegrenzt, suchen sie Wege, ihrem inneren Kerker zu entfliehen. Der hier zum bildenden Künstler umgedeutete Marcello kreiert in einer Vitrine die Puppe Mimi, die der Dichter Rodolfo mit seiner Liebe zum Leben erweckt. Hier nimmt die Inszenierung mythische Züge an. Pygmalion lässt grüssen. Mimi erscheint im weißen Brautkleid als lebendig gewordenes Sehnsuchtsbild der männlichen Phantasie, als Schimäre eines nicht wirklich gelebten Lebens der männlichen Mansardenbewohner, das Ausfluss einer inneren Abwehrhaltung gegen die Verhältnisse ihrer Zeit ist.

Cathrin Lange (Musetta), Marcello, Mimi, Rodolfo, Vladislav Solodyagin (Colline), Giulio Alvise Caselli (Schaunard)

Nachdrücklich prangert Arnarsson die Missstände einer Ära an, die nur auf oberflächliches Vergnügen bedacht war und in der Kunstschaffende wie die Bohèmiens vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen waren. Einem tiefen künstlerischen Bedürfnis der Beteiligten korrespondiert ein Rummelplatz, der zum Vorschein kommt, wenn sich die Bühne dreht. Er wird auf allen Seiten von einem stählernen Gerüst begrenzt, auf dem die Protagonisten wie in einem Amphitheater sogar noch die intimsten Momente ihrer Mitspieler neugierig beobachten. Eine Privatsphäre gibt es in diesem Ambiente nicht. Hier schaffen sich die Handlungsträger ihre eigene Welt mit einer bunt gemischten Gesellschaft aus Intellektuellen, Bücherwürmern, Chordirigenten, Weihnachtsmännern und Transvestiten. Aber auch dieser Ort ist nicht realer Natur, sondern lediglich schöner Schein. Er existiert nur in den Köpfen der Bohèmiens, die strenggenommen aus ihrer Mansarde niemals herauskommen und somit das Leben verpassen, vielleicht sich diesem sogar bewusst verweigern. Es erscheint in allen seinen Ausprägungen allegorisch überhöht in acht jungen Frauen, die zu Beginn den im Rollstuhl sitzenden Rotweinliebhaber Benoit begleiten und sich später in etwas anderer Aufmachung auch auf dem Rummelplatz einfinden. Die von den Freunden gepflegte Negation eines erfüllten Daseins wirkt sich negativ auf die Liebe von Mimi und Rodolfo aus. Während er unfähig ist, den desolaten Umständen beherzt Paroli zu bieten, geht sie voll im Leben auf und verselbständigt sich immer mehr. Aus der Puppe wird ein Mensch. Indem sie ihre ursprüngliche Rolle ablegt, wird sie für die anderen unnütz. Marcello beginnt im vierten Bild eine neue Puppe zu bauen und Rodolfo nötigt Mimi zu guter Letzt in die Vitrine zurück. Im Gegensatz zu allen anderen ist sie aber die einzige, die wirklich gelebt hat. Demgemäß darf sie dann auch auf dem Karussell des Rummelplatzes als Inbegriff des prallen Lebens sterben, wenn auch allein.

Mimi, Rodolfo

Ein Hochgenuss war es, den Vertretern der Hauptpartien zuzuhören. Von diesen famosen jungen Sängern, auf die das Theater Augsburg stolz sein kann, hat jede(r) das Zeug zu einer großen Karriere. Nachdem sie neulich bereits als Donna Anna einen guten Eindruck hinterließ, vermochte Gastsängerin Natalie Karl, die man noch aus Stuttgart in guter Erinnerung hat, an diesem Abend noch stärker für sich einzunehmen. Mit hervorragender italienischer Technik, wunderbarer Linienführung und beseeltem Ausdruck zeichnete sie ein sehr berührendes, emotionales Rollenportrait der Mimi, der sie auch darstellerisch ein anrührendes Profil gab. Ebenfalls Gast war Joel Montero, der für den Rodolfo eine gute Wahl war. Mit angenehmem, rundem und farbenreichem lyrischem Tenor, den er nuancenreich und mit großem Schmelz einzusetzen wusste, entsprach er dem Dichter voll und ganz. An das hohe vokale Niveau des Liebespaares vermochte Seung-Gi Jungs sonor und obertonreich singender Marcello problemlos anzuknüpfen. In puncto Ausdrucksintensität war er Montero sogar überlegen. Als ideale Musetta erwies sich Cathrin Lange. Trefflich war schon ihr aufgewecktes, kokettes Spiel. Und was sie mit ihrem wunderbar italienisch geschulten, klangvollen und flexiblen Sopran stimmlich bot, legt den Schluss nach, dass hier eine vorzügliche Mimi nachwächst. Giulio Alvise Caselli gab mit bestens sitzendem hellem Bariton einen guten Schaunard und Vladislav Solodyagin überzeugte als profund intonierender Colline. Greg Ryerson legte den Benoit stimmlich zu karikativ an. Da schnitt Eckehard Gerboth als Alcindoro und Sergeant schon besser ab. Sehr dünnstimmig präsentierte sich der Parpignol von Gabor Molnar. André Wölkners Zöllner rundete das homogene Ensemble ab. Der von Katsiaryna Ihnatsyeva-Cadek einstudierte Chor und Kinderchor hinterließ einen gefälligen Eindruck.

Mimi

Ebenfalls gastweise erschien Elias Grandy am Pult des Augsburger Orchestergrabens und erwies sich als erstklassiger Vertreter von Puccinis Musik, deren veristische Prägung er voll auskostete. Insgesamt fiel sein Dirigat sehr mitreißend und gefühlvoll aus, ohne dabei je sentimental zu wirken. Die Augsburger Philharmoniker setzten die Intentionen des Dirigenten intensiv und klangschön um.

Ludwig Steinbach, 10. 1. 2014

Die Bilder stammen von Nik Schölzel (teilweise andere Sänger aus der Premierenserie)