Wann habe ich das letzte Mal einen so stimmigen Opernabend erlebt? Diese Frage ging mir gestern Abend beim Verlassen des Dortmunder Opernhauses durch den Kopf und in der Tat musste ich lange überlegen. In Dortmund bekommt der Zuschauer derzeit bei Giacomo Puccinis La Bohème alles geboten, was den Reiz dieses Genre ausmacht. Eine ins Ohr gehende Partitur, hervorragende Sänger, eine Geschichte voller Gefühl und eine Inszenierung die eben diese Geschichte als solche auf die Bühne bringt. Angesiedelt im Pariser Künstlermilieu gegen Ende des 19. Jahrhunderts erzählt Regisseur Gil Mehmert Puccinis Oper so, wie der Komponist sich das seinerzeit vorgestellt hat. Zu Gute kommt ihm hierbei, dass der erzählerische Duktus dieser Oper stark episondenhaft daher kommt. Wie sagt Mehmert im Programmheft so passend: „Vom intimen Zwiegespräch zum großen szenischen Tableau, vom engen Close-Up zur offenen Totale wechselt der Komponist fortwährend, gleich einem Kameramann, seine musikdramaturgischen ‚Einstellungen‘.“ Somit ist La Bohème wohl die perfekte Oper für Mehmerts Inszenierungsweise, die sich in aller Regel sehr nah am filmischen Erzählstil anlehnt. Und allein dies macht einen Besuch der Vorstellung schon sehenswert.
Hinzu kommen die Darsteller, die insbesondere in den vier Hauptrollen vollkommen überzeugen können. Großen Applaus gab es dafür am Ende insbesondere für die Paare Zhala Ismailova (Mimi) und Sungho Kim (Rodolfo) sowie Sooyeon Lee (Musetta) und Mandla Mndebele (Marcello). Die verschiedenen Duette entpuppten sich an diesem Abend als echte Highlights. Doch auch in den einzelnen Arien zeigten die vier Darsteller ihr ganzes Können. Großartig, fabelhaft und ähnliche Begriffe sind hier treffend und ohne Übertreibung zu benutzen. Auch die weiteren Besetzungen waren in ihren Rollen passend. Dazu gesellt sich der Opernchor des Theater Dortmund sowie der OpernKinderchor und Knabenchor der Chorakademie Dortmund. Sehr schön hierbei, wie die Kinder vor der Pause nach dem zweiten Bild ihren verdienten Applaus entgegennehmen durften. Unter dem Dirigat von Motonori Kobayashi zeigten sich auch die Dortmunder Philharmoniker gestern von ihrer besten Seite. Mal harmonisch sanft, dann wieder laut und dramatisch. Dies alles mit einem feinen Gespür für die Textverständlichkeit der Sänger.
La Bohème hat, was fast schon eine kleine Besonderheit darstellt, keine Ouvertüre. Somit geht es gleich mit dem ersten Bild los, zu dem sich der Vorhang öffnet und den Blick auf das wunderbare Bühnenbild von Jens Kilian frei gibt. Hoch über den Dächern von Paris haben die Bohèmiens ihren Lebensmittelpunkt in einem kleinen Glashaus auf dem Dach eines Bürgerhauses. Dazu schneit es passend zur Weihnachtszeit, zu der diese Oper beginnt. Die folgenden zweieinhalb Stunden vergehen wie im Fluge, bis Mimi schließlich in den Armen von Rodolfo in einem der gefühlvollsten Momente der Operngeschichte stirbt. Der Vorhang schließt sich und man ist als Zuschauer sichtlich ergriffen, von diesem Opernabend der in der noch jungen Spielzeit 2023/24 bereits ein großes Ausrufezeichen setzt. Alleine für sich ist dies schon ein Abend, den man sich als Opernfreund unbedingt anschauen sollte. Doch die Oper Dortmund hat sich hier zu einer Doppelpremiere mit dem Musical Rent entschieden, das in der vergangenen Woche seine ebenfalls umjubelte Premiere feiern konnte, und diese Kombination macht einen unvergesslichen Opernabend noch einmaliger.
Jonathan Larson schuf das Musical Rent als eine Überschreibung von Puccinis Oper. Dies bedeutet, er erzählt eine ähnliche Geschichte in etwas abgewandelter Form, die allerdings sehr viele Parallen zum Original aufweist. Fast auf den Tag genau 100 Jahre nach der Uraufführung von Puccinis La Bohème am 01. Februar 1896 in Turin fand die Premiere von Rent am 25. Januar 1996 in New York statt. Hier leben dann auch die neuen Bohèmiens kurz vor der Jahrtausendwende. Ein großer Spaß ist es, die beiden Aufführungen in Dortmund zu vergleichen, die beide vom selben Team erarbeitet wurden und in einem nahezu identischen Bühnenbild spielen. Beispielhaft genannt sei hier nur die Einrichtung der Dachwohnung: Vom Skelett in der Ecke welches als Garderobe dient, über die Badewanne als zentrales Element und dem alten Ofen für etwas Wärme. Statt Rodolfos Drama werden im Musical in diesem Ofen alte Plakate des Musikers Roger Davis verbrannt. Parallelen gibt es bei beiden Stücken sowohl in der Handlung, wie auch bei den Figuren. Aus dem Maler Marcello wird der junge Filmemacher Mark Cohen, beide schaffen auf ihre Weise Bilder für die Nachwelt, wenn auch mit unterschiedlichen Mitteln. Und auch Mimi, die sich bei ihrem Nachbarn Feuer holen will, ist in beiden Produktionen dabei. Der Drag-Künstler Angel trägt im Musical den Nachnamen Schunard, passend zu Puccinis Schaunard. Auch bei der Inszenierung setzt Mehmert auf einige Parallen. Herrlich wie sich beim unangekündigten Besuch des Vermieters in der Wohnung jeweils zwei Darsteller auf eine identische Art und Weise in den Vorhängen der Wohnung verstecken. Auch das Lebkuchenherz auf dem Weihnachtsmarkt ist in beiden Inszenierungen vorhanden. Immer wieder gibt es solche Gemeinsamkeiten zu entdecken und doch sind beide Aufführungen auch für sich alleine betrachtet schon großartig. Man möchte hier nun auch gar nicht zu viel verraten, denn ein Besuch beider Vorstellungen in zeitlicher Nähe ist etwas ganz Besonderes, das es in der Form wohl kein zweites Mal gibt und bei dem es sehr viel zu entdecken gibt. Am 15. Oktober und am 10. Dezember 2023 sind beide Vorstellungen sogar mit einem Komtiticket für den Nachmittag und den Abend buchbar (in der Onlinebuchung allerdings etwas versteckt als „Vorteilspaket Liebesduo“).
Egal ob in Kombination mit dem sehenswerten Musical Rent oder auch alleine, für La Bohème sollte man die Fahrt nach Dortmund auf sich nehmen, denn einen so wunderbaren Opernabend erlebt man nicht alle Tage.
Markus Lamers, 7. Oktober 2023
La Bohème
Oper von Giacomo Puccini
Oper Dortmund
Premiere: 2. September 2023
Besuchte Vorstellung: 6. Oktober 2023
Inszenierung: Gil Mehmert
Musikalische Leitung: Motonori Kobayashi
Dortmunder Philharmoniker
Weitere Aufführungen: 14. Oktober / 15. Oktober / 19. November / 24. November / 9. Dezember / 10. Dezember / 23. Dezember / 25. Dezember / 6. Januar