Hildesheim: „Doktor Faust“

Premiere am 15. April 2017

Atmosphärisch dicht

Albrecht Pöhl

Mit der selten gespielten Busoni-Oper verabschiedet sich GMD Werner Seitzer, der jahrzehntelang Garant war für hohes musikalisches Niveau am kleinen Stadttheater Hildesheim, seit geraumer Zeit „Theater für Niedersachsen“ (TfN). Zugleich ist die Produktion wegen des vertonten Streits der Theologie-Studenten über Luthers Lehre in Wittenberg ein Beitrag des Theaters zum 500-jährigen Reformationsjubiläum. Der 1866 geborene Deutsch-Italiener Ferruccio Busoni hatte sich bei seinem unvollendet gebliebenen musikdramatischen Hauptwerk für den Faust des mittelalterlichen Puppenspiels entschieden; jede Nähe zu Goethe vermied er aus großem Respekt gegenüber dem Dichterfürsten. Philipp Jarnach vollendete die nach Busonis Vorwort zur Partitur „an das alte Mysterium anknüpfendende“ Oper, die am 21. Mai 1925 in Dresden uraufgeführt wurde. Anders als derzeit in Dresden wählte man in Hildesheim diese von Jarnach ergänzte und vollendete Fassung.

Die Verwirklichung der „Faust“-Oper von Busoni ist wegen des schnellen Wechsels ihrer sehr unterschiedlichen, fast ohne Bezug zueinander stehenden Szenen und der hohen musikalischen Anforderungen für jedes Haus eine ungemein anspruchsvolle Aufgabe. Auch für die Zuschauer ist sie aus diesen Gründen ziemlich schwere Kost, so dass in der besuchten Vorstellung nicht alle bis zum Schluss durchgehalten haben.

In Hildesheim ist Uwe Schwarz eine atmosphärisch dichte Inszenierung gelungen, wohl auch deshalb, weil sich der Ausstatter Philippe Miesch auf wenige, den jeweiligen Spielort kennzeichnende Elemente im grauen Einheitsbühnenbild beschränkt hat, das allerdings mit raffinierter Beleuchtung und Projektionen gefüllt wird.


Zu Beginn beschwört der Gelehrte und Alchimist Doktor Faust mit Hilfe eines magischen Buches, das ihm drei geheimnisvolle Studenten aus Krakau übergeben haben, sechs Geister; der sechste ist niemand anderes als Mephisto, der für seine Dienste zur Bedingung macht, dass Faust ihm nach seinem Tod dient, was dieser ablehnt. Da ihn aber Gläubiger und andere von ihm betrogene Menschen bedrohen, beauftragt Faust Mephisto, diese zu töten, was weitreichende Folgen hat, denn damit ist der Pakt geschlossen; das mit Blut unterzeichnete Schriftstück dient Mephisto nur als Sicherheit. Ironischerweise erklingen zum Teufelspakt von draußen ein „Gloria“ und ein österliches „Alleluja“. In einer Kapelle bittet ein Soldat in mittelalterlicher Ritterrüstung Gott um Hilfe zur Rache für den Tod seiner Schwester, die Faust verlassen hat. Mephisto schafft ihn aus dem Weg, indem er arrangiert, dass dieser von einem Soldatentrupp erschlagen wird. Erneuter Szenenwechsel: Am Hof von Parma hilft Mephisto Faust, die junge Herzogin zu verzaubern und sie ihrem Gatten vor der Hochzeitsnacht zu entführen. Zurück in Wittenberg erlebt der in einer Kneipe (hier eher ein Hörsaal) mit katholischen und lutherischen Studenten diskutierende Faust, wie Mephisto, als Kurier auftretend, sein Parma-Abenteuer in Bänkelmanier vorträgt und ihm ein totes Kind, eine Strohpuppe, als letzten Gruß der Herzogin vor die Füße wirft. Aus der Asche der verbrennenden Puppe beschwört Mephisto die schöne Helena herauf. Faust gerät fasziniert in Ekstase, erkennt sich aber als „weiser Narr“, als sich die Frauenfigur als Trugbild entpuppt. Die drei Krakauer Studenten fordern ihr Buch zurück; doch Faust hat es inzwischen vernichtet, worauf ihm die drei den nahen Tod verkünden. Die Schlussszene spielt nachts auf einer verschneiten Straße: Eine Bettlerin, in der Faust die Herzogin zu erkennen glaubt, gibt ihm ihr neugeborenes Kind. Er sucht in der Kirche Zuflucht und sinkt vor einem Kruzifix nieder, doch Mephisto verwandelt den Gekreuzigten in Helena. Mit letzter Kraft führt Faust eine fantastische Beschwörungszeremonie durch, mit der er erreichen will, dass seinem sterbenden Kind das gelingen möge, was ihm nicht vergönnt war. Zum zweiten Ruf des als Nachtwächter verkleideten Mephisto stirbt Faust, und aus dem Kind entsteigt ein Jüngling mit grünendem Zweig, Fausts „ewiger“ Wille, der zu neuem Leben erstanden ist. Der Schluss in Hildesheim ist überraschend; denn als Mephisto den Leichnam mit der lapidaren Frage „Sollte dieser Mann verunglückt sein?“ wegschaffen will, bäumt sich Faust auf und zieht Mephisto zu sich herab.

Antonia Radneva/Albrecht Pöhl/Konstantinos Klironomos/Statistin

Die verschiedenen Szenen in „Doktor Faust“ werden auch musikalisch jeweils sehr unterschiedlich gestaltet: So gibt es beim Teufelspakt kunstvoll polyphone Osterklänge mit Orgel und Glockengeläut, während sich am Hof zu Parma eine geradezu barocke Tanz-Suite entwickelt. In Wittenberg fließen das katholische Te Deum und der protestantische Luther-Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“ in einer Fuge zusammen. All dies passt zu Busonis im Vorwort zu „Doktor Faust“ erläuterter Auffassung, dass „die Oper alle Mittel und Formen … vereint in sich birgt, sie gestattet und sie fordert.“

Dass das Geschehen um Faust und Mephistopheles insgesamt so intensiv und packend war, lag ganz wesentlich an der ausgezeichneten Gestaltung durch die mit kluger Personenregie geführten Protagonisten. Wie Albrecht Pöhl den Faust als zunächst überheblichen „Alleskönner“ darstellte, der am Schluss daran verzweifelt, dass er wie alle Menschen vergänglich ist, das hatte in starker Eindringlichkeit darstellerisch hohes Niveau. Dazu kam die glänzende stimmliche Bewältigung des alles andere als einfachen Parts. Gerade Faust hat häufig gegen den dicht instrumentierten Orchesterklang anzusingen, was dem Bariton mit abgerundeter, volltimbrierter Stimme durchgehend gut gelang. Sein Gegenspieler Mephistopheles war Hans-Jürgen Schöpflin anvertraut, der den Teufel mit der nötigen Dämonie versah und der seinen teilweise passend schneidend scharfen Tenor differenziert einzusetzen wusste. In bewährter Manier war Uwe Tobias Hieronimi Fausts Famulus Wagner, später Universitätsrektor, und der komische Zeremonienmeister am Hof zu Parma. Hier war man dankbar über den Auftritt von Antonia Radneva als Herzogin, ein Lichtblick in der männerlastigen Oper, die endlich etwas lyrischere Passagen hören ließ. Dabei imponierte sie durch Höhen- und Intonationssicherheit ihres klaren Soprans. In weiteren kleineren Partien waren jeweils in verschiedenen Rollen Konstantinos Klironomos mit feiner Tenor-Lyrik zu erleben, Peter Kubik mit charaktervollem Bariton u.a. als des Mädchens Bruder, Aljoscha Lennert und Levente György u.a. als stimmkräftige Studenten aus Krakau und in Wittenberg, sowie Piet Bruninx (u.a. Theologe) und Jan Kristof Schliep (u.a. ein Leutnant).

Hans-Jürgen Schöpflin/Choristen

Am Pult des gut disponierten Orchesters sorgte Werner Seitzer dafür, dass die verschiedenen Facetten der variantenreichen Partitur sinnfällig ausgedeutet wurden. Wie so oft in Hildesheim entwickelten Opernchor, Extrachor und Studierende der Musikhochschule Hannover in der Einstudierung von Achim Falkenhausen prächtigen, ausgewogenen Chorklang.
Das Publikum war zu Recht sehr angetan und spendete lang anhaltenden Beifall für alle Beteiligten.

Gerhard Eckels 27.4.2017

Bilder: Jochen Quast

Weitere Vorstellungen: 14.,25.,30.5.+5.,9.6.2017