Premiere: 1.3. 2020. Besuchte Vorstellung: 4.3. 2020
Erst vor wenigen Wochen konnte man im Nürnberger Staatstheater die Neuinszenierung einer Oper erleben, deren Libretto von Philippe Emile François Gille geschrieben wurde: Jules Massenets „Manon“. Nun hatte ein etwas kürzeres Opus im Hofer Theater Premiere, in dem es gleichfalls tödlich zugeht – oder zumindestes zuzugehen scheint, denn natürlich ist in Jacques Offenbachs Opérette-bouffe „Vent du soir“ (Untertitel: „L’horrible festin“, also „Das schreckliche Gastmahl“) vom Abschlachten nur die Rede. Allein der Heilige Bär muss dran glauben, aber er ist lediglich aus Pappe – so wie die entzückend zweidimensionale Dekoration, in die die Regisseurin Jasmin Sarah Zamani und ihre Bühnen- und Kostümfrau Aylin Kaip die Geschichte von den Menschenfressern hineingestellt haben.
Man spielt hier die Wiener Fassung, die Johann Nestroy zusammen mit einem unbekannten Couplet- und Duett- und Ensembleübersetzer kurz nach dem französischen Offenbach-Gastspiel an der Donau im Jahre 1861 als „Häuptling Abendwind oder Das gräuliche Festmahl“ auf die Bühne brachte, und die 1990 von Mathias Spohr „nach Quellen bearbeitet“ wurde. Michael Falk sitzt am Klavier, der Violoncellist Markus Jung neben ihm. Der spielt Offenbachs Leib- und Mageninstrument, um Offenbachs Orchester zu ersetzen, die Rolle des Chors wurde gegenüber dem Original etwas vergrößert (man und frau vom guten Hofer Opernchor kann ja auf die Melodie der Ouvertüre „Hullahulla“ intonieren) – und im Publikum erblickt man wieder einmal nur diejenigen, die man in Zeiten der Corona-Hysterie als „Risikogruppe“ einzuschätzen pflegt. Dabei wäre Offenbachs und Nestroys Hinter- und Blödsinnigkeit vielleicht ein Weg, um etwas jüngere Leute zum zumindest heiteren Musiktheater hinzulotsen. Nestroys Sprache geht an diesem Abend zwar nicht verloren, aber die akustischen Verhältnisse sind im Europasaal des Bayreuther „Zentrums“ leider so beschaffen, dass manches Wort in der Kulisse landet; und „richtig“ wienerisch – obwohl er kein Österreicher ist – spricht an diesem Abend eh nur Markus Gruber. Der grandiose Darsteller und exzellente Sänger spielt den Biberhahn, dessen Frau vom Häuptling Abendwind gefressen wurde, während er dessen Frau sich einverleibte. Nun kommt er zu Friedensverhandlungen ins australische Dorf, das noch nicht von den Europäern oder Amerikanern entdeckt wurde. Abendwinds Töchterchen Atala verliebt sich in Biberhahns Sohn mit dem indianischen Namen „Arthur“, der – zufällig ein Friseur – verliebt sich stracks in sie, wird scheinbar dem Papa zum Friedensmahl aufgetischt, aber „Häuptling Abendwind“ ist nicht „Titus Andronikus“. Am Ende wurde nur der Bär gefressen, der Koch mit dem bezeichnenden Namen „Ho-Gu“ (man muss ihn nur französisch aussprechen) wird vom zu Fressenden bestochen, indem er frisiert wird, und der Coiffeur darf die Tochter des einstigen Erzfeinds heiraten. Am Ende war das gegenseitige Fressen nur, wie man neuerdings in Wien zu sagen pflegt, a b’soffne G’schicht, oder anders: „eine schauderhafte Reziprozität“. „Nur erst den Fortschritt ausgebatzt“: das ist ein Ansatzpunkt für eine mögliche gegenwärtige Interpretation des Stücks, das nicht in irgendwelchen Hotelzimmern oder Sicherheitskonferenzsälen spielen muss, um als heutig anerkannt zu werden. Am Ende aber reichen sich die beiden Wilden die Hand, weil die jungen Leute es besser wissen; die Liebe wiegt halt doch schwerer als ein politischer Konflikt. Das Programmheft zitiert Nietzsches Einschätzung der Offenbachschen Musik, die „mit einem Voltaire’schen Geist“ gesegnet sei: „frei und übermütig“. Der schwarze Humor dieser seinerzeit erfolglosen, weil wohl zu garstigen Farce, die es in Hof auf 75 Minuten bringt, während eine Aufführung wie die der Opéra de Barie, die sich auf Offenbach-Ausgrabungen spezialisiert hat, mit 50 Minuten auskommt, der Humor dieses Stücks passt trefflich zur Musik, die sogar einen veritablen Ohrwurm ihr eigen nennt: der Kriegsgesang der Papa-Toutous provoziert nicht nur Markus Gruber zu einem revuehaften Hüftschwung. „Wir sind ja gemütliche Leut“, sagt Häuptling Biberhahn. Man kennt ja diese „gemütlichen“ Leut’…
Abendwind ist in Hof Thilo Andersson, der dem von den Verhältnissen sichtlich überforderten Häuptling seinen schrägen Humor beigibt. Dritter im Bunde ist der Friseur; Minseok Kim singt ihn einschmeichelnd. Und Sophie-Magdalena Reuter spielt und singt die junge Dame im Dschungelkostüm so kapriziös, dass man sie eher auf der Ringstraße vermuten würde – wohin sie ja wohl auch schnellstens entführt wird…
Frank Piontek, 5.3. 2020
Foto: © H. Dietz Fotografie