Hof: „Orpheus und Eurydike“

Premiere: 20.9. 2019. Besuchte Aufführung: 8.12. 2019

Man bzw. Frau kann ja das Finale, das umstrittene, auf verschiedene Weise inszenieren:

1. Man lässt den Jubelchor fort (auf die Ballettsuite verzichtet man ja eh meist) und den Witwer im Dunkel seiner Trauer und Einsamkeit zurück.

2. Man inszeniert den Jubelchor und persifliert ihn, denn ein „Happy End“ ist nach dem Verlauf des dritten Akts kaum noch glaubhaft.

3. Man inszeniert den Schlusschor und die finale Ballettsuite, in der man die gesamte Geschichte noch einmal pantomimisch Revue passieren lässt.

4. Man inszeniert den Jubelchor und zeigt, dass der Witwer wieder in der Welt angekommen ist, in der – MIT ihm – das Leben und die Liebe weitergehen.

So geschehen und gesehen in Hof, wo sich die Regisseurin Nilufar K. Münzing dazu entschied, die Geschichte des in die Unterwelt hinab- und das Elysium emporsteigenden Sängers auf der Grundlage einer Phasenbeschreibung zu entwerfen, die die Sterbekundlerin Elisabeth Kübler-Ross 1961 vorlegte. Die fünf Phasen des Umgangs mit einem elementaren Verlust sind im Idealfall Folgende: Verleugnen, Zorn, Verhandeln mit dem Schicksal, Depression und Zustimmung – freilich verbunden mit der Variation und Dauer wie der Reihenfolge, auch mit Wiederholungen einzelner Teile, sogar mit dem Ausbleiben einzelner Phasen, was die Idealtypik denn doch zu einer reichlich wackligen macht, aber insgesamt wird der Laie dem Modell zustimmen können.

Dass es mit der „Zustimmung“ und „Akzeptanz“ des Verlusts, den Orpheus erleidet, seine Richtigkeit hat, verbürgt schon das „Lieto fine“, das 1762 in Wien und 1774 in Paris inszeniert werden musste, handelt es sich bei Glucks und Calzabigis „Orfeo“ doch nicht um eine „Tragédie lyrique“, sondern eine Reformoper ganz eigenen Zuschnitts – der die Konvention am Anfang (in der festlichen Ouvertüre) und im Finale (der Scena ultima) noch anhaftet. Ganz vermag auch Nilufar K. Münzings Inszenierung am Ende nicht zu glücken, weil das, was die von Amor noch einmal und zum letzten Mal hereingeführte und schließlich entschwindende Eurydike da verkündet, wenig zur Phase 5 – Zustimmung, Akzeptanz“ – passt. Man spielt in Hof die Pariser Fassung (in deutscher Fassung und ohne Ballettsuite), aber die letzte Nummer nach der Wiener Fassung, in der die drei Solisten mit dem Chor bekunden, dass „der Liebende die Qual im süßen Augenblick der Erhörung vergisst“ und „die Eifersucht quält und verzehrt, doch dann die Treue heilt“. Das alles bezieht sich (gut!) auf die zukünftigen Liebes- und Ehepaare, die – wie am Beginn der Operninszenierung – zueinander finden, doch vermag es Orpheus‘ Zustimmung zu seinem eigenen Seelenzustand auszudrücken?

An diesem Punkt der Interpretation bleiben Fragen offen, aber es spricht für den Abend, dass sie nur hier formuliert werden können. Anderes hätte bei diesem „glücklichen“ Finale, das nach unseren Erfahrungen unmöglich affirmativ inszeniert werden kann, auch gewundert. Was für den Abend spricht, ist schon der Umstand, dass sich Daniela Meneses, fleißig an der Inszenierung der Oper beteiligen darf. Denn sämtliche Ballos, die in der Pariser Fassung ausdrücklich zu „Pantomimen“ wurden, werden in eine sinnfällige wie ästhetisch schöne Choreographie aufgelöst. Es sind also hier nicht allein die Furien und Seligen, die die Bühne bevölkern, sondern zuallererst ein Double-Paar der Titelfiguren, später gar vier Euridykes, die den Helden bei seinem Gang in die Anderswelt begleiten: als Compagnons seiner Träume und Ängste; besonders berückend gerät der in bestem Sinne klassische Pas de deux des „Reigens der seligen Geister“. Ali San Uzer und Mar Reig Copovi tanzen sich spätestens in dieser zentralen, in Musik und Bewegung aufgelösten Szene in die Herzen der Zuschauer hinein: sie, Eurydike, „ein Schatten, der uns hört“, wie es bereits in der Trauerszene heißt, und er, Orpheus, der den Verlust nicht akzeptieren kann.

Nicht nur dieser Paartanz lässt es verschmerzen, dass die Koloraturarie, die Gluck in die Pariser Partitur einlegte – „L’espoir renait“ – mit seinen Formalismen einer typischen Seria-Arie absolut quersteht zum sonstigen aufgelichteten Stil der Partitur (auch wenn Jürgen Schläder anlässlich der letzten Münchner Staatsopern-Premiere des „Orphée“ zu begründen versuchte, dass diese musikalisch exterritoriale Arie, die nicht grundlos selten gesungen wird, genau zu Orphées Aufbruchsstimmung passe). Minseok Kim hat auch sonst genug zu tun. Mit seinem lyrischen Tenor, der an die Stelle des von Gluck vorgesehenen Haute-Contre – eines hohen Tenors mit einer auffälligen Höhe in den Spitzentönen und einer sehr hohen Tessitur – getreten ist, bringt er die Partie in seine empfindsame Kehle: gelegentlich etwas gepresst klingend, doch passt’s zur psychologischen Aufnahmesituation des schwer leidenden Witwers. Starker Beifall für den guten Sänger, der diese Monsterpartie mit Anstand bewältigt. Neben ihm steht Sophie-Magdalena Reuter, die eine direkt ansprechende, stimmschöne und ausdrucksstarke, dabei nie schollernde Eurydike singt, die selbst in IHRER psychischen Ausnahmesituation der Heimbringung auf genaue Artikulation setzt. Es ist übrigens an diesem Abend nur schwer zu verstehen, wieso sich ausgerechnet Eurydike dem Gang an die Oberwelt und ins „Leben“ zurück widersetzt – denn sie ist, innerhalb einer schrecklich uniformen, auf einen langweiligen wie leicht bizarren Mono-Look getrimmten Elysiumseinwohnerschaft die Einzige, die individuell aussieht und einer persönlichen Beschäftigung nachgeht. Vermutlich liest sie gerade in Schwabs „Sagen des klassischen Altertums“, wie es mit Orpheus und seiner Eurydike damals ausging… Behauptet sie auch, dass das Elysium der ideale Ort einer glücklichen Gelassenheit sei, so ist sie offensichtlich anders als die Anderen. Die seit je umstrittene Frage, wieso die teure Gattin herumzickt und Orpheus zum Rückblick provoziert, wird durch die Inszenierung des Elysiums nicht vereinfacht, sondern verkompliziert – denn wieso sollte sich die selbstbewusste Eurydike nach den Langeweilern zurücksehnen, die das Elysium bevölkern?

Weil es eh nur ein Traum ist. Orpheus, von Beruf Straßensänger (also ein Sänger für Du und Ich), will sich hier umbringen und visioniert sich den Gang in die Unterwelt in seinem Krankenbett. Für ihn sind die Furien die schwarzgewandeten Verwalter des Sterbens, die auf ihren Schreibmaschinen stumpfsinnig die Berichte des Todes tippen. Uta Gruber-Ballehr hat den Furien die Haarpracht von Stachelschweinen verpasst, die den weißen Kopfputzen der „Seligen“ nicht zufällig ähneln; zwischendurch dürfen zwei Furien als Ärzte an Orpheus‘ Krankenbett den Patienten bearbeiten. Immer wieder erscheinen seine Eurydiken in seinem kleinen Haus, das Britta Lammers auf die Bühne gebaut hat: ein Modellhaus für Jedermann, denn jeder stirbt und jeder leidet bekanntlich für sich allein.

„Amor toujours“ – so heißt in dieser gelungenen und an entscheidenden Stellen frag-würdigen Inszenierung der Gott der Liebe, der von Yvonne Prentki lyrisch schön, manchmal etwas leise gesungen wird. Die Liebe aber ist mehr als eine französische Zigarettenmarke, auch wenn die Regie es zunächst mit einem ironischen Verweis auf die französische „amour“ zu behaupten scheint.

Was bleibt, ist der insgesamt gelungene Versuch, die Liebe und deren Verlust mit den Mitteln von Theater und Tanz und einer von den Hofer Symphonikern unter Roman David Rothenaicher nuanciert und vital gespielten Partitur in einer musikdramatischen Fallstudie zu erfassen. Der Versuch ist geglückt, auch wenn nicht jede der acht Vorstellungen so gut besucht war wie die Premiere und die letzte Aufführung – denn für das Hofer Publikum ist eine Oper aus dem Jahre 1762, die nicht (mehr) zum Kernrepertoire zählt und noch nie (!) in Hof gespielt wurde, eher absonderlich. Umso schöner, dass man der Inszenierung und den Sängern, nicht zuletzt dem voll im Einsatz stehenden guten kleinen Opernchor, den verdienten Beifall zollte: sozusagen in Liebe zum genau und liebevoll gemachten Musiktheater und seinen nach wie vor unabgegoltenen Inhalten und Fragen.

Frank Piontek, 10.12. 2019

Fotos: © Harald Dietz Fotografie