Magdeburg: „Die Walküre“

Premiere am 8. September 2018

Eine Sängerin als Wotan – und nicht nur das höchst gelungen!

Wahrscheinlich war es eine Weltpremiere, und nicht nur die Premiere einer neuen „Walküre“-Produktion, mit der das Theater Magdeburg unter der Leitung von Intendantin Karen Stone an diesem Abend im wahrsten Sinne des Wortes aufhorchen ließ. Zumindest ich kann mich nicht erinnern, dass je zuvor eine Frau die wohl männlichste aller Wagner-Partien, den Göttervater Wotan, auf der Bühne spielt und singt. So tat es an diesem Abend Lucia Lucas, die zunächst ein Mann war und seit einiger Zeit eine Frau ist, also eine Transgender-Person. Nach einer Reihe von Partien im Bariton-Fach wie Graf Monterone, Sharpless oder Capellio, ging sie an diesem Abend den Mount Everest für alle Bassbaritone an, den „Walküre“-Wotan, an dem einst in London Covent Garden sogar Bryn Terfel gescheitert war. Und welches Risiko sie damit einging, war ihr an der großen Erleichterung, ja fast einer Rührung anzusehen, die sie beim Schlussapplaus zeigte. Es schien Lucia Lucas ein riesiger Felsbrocken vom Rücken gefallen zu sein. Diese Partie war wohl auch ihr Mount Everest.

Die andere positive Überraschung bei dieser „Walküre“ war ihr Regisseur und wie er den 1. Abend des „Ring des Nibelungen“ in Magdeburg anging, in einer Stadt, die immerhin Richard Wagners erste UA erlebte, „Das Liebesverbot“ im Jahre 1835! Jakob Peters-Messer, der schon zuvor am Theater Magdeburg inszeniert hatte, schuf in Zusammenarbeit mit seiner Dramaturgin Ulrike Schröder eine „Walküre“ von einer solchen menschlichen Intensität, wie ich sie selten, wenn überhaupt, je gesehen habe. Hier wurden ganz neue zwischenmenschliche Aspekte im Stück entdeckt und mit einem Ensemble realisiert, welches bis auf den Siegmund von Richard Furman und die Fricka von Ks. Undine Dreißig in den jeweiligen Rollen debutierte! Vielleicht war das auch ein Teil des Geheimnisses des emotional immer wieder berührenden Ergebnisses dieser Lesart. Denn alle Akteure gingen mit einem bemerkenswerten Maß an Authentizität bei offenbar bestem Werk-Verständnis an ihre Aufgaben heran. Sie kannten ja gar keine andere „Walküre“, in der sie zuvor gespielt hätten, und waren somit wohl mehr als die „versierten“ Interpreten für Orientierungen des Regisseurs, aber auch eigene Ideen empfänglich.

Peters-Messer geht zutreffenderweise davon aus, dass im „Ring“ die vom Menschen gestörte und zerstörte Natur das Grundthema ist. Wie weiland Harry Kupfer in Bayreuth sieht er dabei die Menschen von den Göttern bzw. Vätern manipuliert, wie sie sich von der – von ihnen oft gar nicht als solcher wahrgenommenen Manipulation – zu befreien versuchen und dennoch daran scheitern. Das beste Beispiel sind in der „Walküre“ natürlich Siegmund und Sieglinde. Dabei schafft der Regisseur, nicht zuletzt auch mit seinem Bühnenbildner (auch Lichtdesign und Videos) Guido Petzold und dem Kostümbildner Sven Bindseil, der nicht so leichte Spagat zwischen Mythos und Gegenwart bzw. Jetztzeit. Denn Peters-Messer sucht auch die „Entwicklung vom Konkreten zum Abstrakten“ auszudrücken. Petzold baute ihm auf der Magdeburger Drehbühne zunächst mit Hundings Hütte einen eher noch konkreten Ort (hier handeln noch ausschließlich Menschen untereinander) mit einem aus einer Art Rigips-Platten zusammen gehauenen Wohnraum, der nach außen schon offen ist. Der Regisseur nennt es „Rohe Zivilisation im Aufbau“. Im 2. Aufzug, in dem ja Götter mit Menschen agieren, stellt er sich bereits als eine Mischung aus Wohnraum und Felsengebirge dar, in das Wotan sich mit ein paar Decken und PET-Flaschen wie ein Aussteiger zurückgezogen hat, um im 3. Aufzug in ein Gebilde zwischen Natur und Architektur zu mutieren – ein vom Krieg zerschossenes, mehrere Zimmer umfassendes Wohngebilde mit Felsenkonturen, in dem die Walküren die Helden sammeln. Walhall liegt also optisch schon in Trümmern, bevor Wotan in diesen Bildern später sein vollständiges menschliches Versagen realisiert.

In diesen archetypischen Räumen dokumentieren die Kostüme das Heute und damit den zeitlich universellen Charakter der Tetralogie Wagners. Wotan beobachtet aus dem Hintergrund im dunklen Anorak mit Kapuze das Treiben Siegmunds und Sieglindes, bis er nach dem auf die Schwertgewinnung unmittelbar folgenden Kopulationsakt auf dem Tisch des Hauses (Von wegen „Der Vorhang fällt schnell“) zufrieden die Bühne verlässt. Sieglinde, mit der jungen Israelin Noa Danon ohnehin eine Schönheit, könnte mit ihrem sexy Outfit gerade aus einer Diskothek gekommen sein, während Siegmund etwas verwildert daher kommt, aber nicht „unmodern“. Fricka erscheint resolut im eleganten Hosenanzug in Bleu als Geschäftsfrau mit einem geschniegelten Buchhalter samt Alu-Trolley und Assistentin. Dem im Sandler-Outfit sich erst einmal in Zufriedenheit über das Gelingen seines ersten Aktes (!) ergebenden Wotan knallt sie aus dem Alu-Trolley den Anzug und die schwarzen Schuhe vor die Füße, mit denen er nun Siegmund im Kampfe fallen lassen soll. Die Assistentin entsorgt unterdessen in stoischer Ruhe alle Utensilien des „Gottes“ in Müllsäcke, inklusive der noch vollen PET-Flaschen… Brünnhilde und die Walküren, von ihrer Natur her ja eher unkonventionell, tragen schon die Jeans mit den Tag für Tag immer größer werdenden Einrissen (wegen derer wir die Hosen früher in die Altkleidersammlung gegeben hätten), heute aber bei der Jugend so geschätzt. (Man fragt sich schon, wann die Löcher größer als der sie umgebende Stoff sein werden; lang wird’s wohl nicht mehr dauern…). Also, aktueller geht es in dieser optischen Hinsicht nicht mehr. Aber es passte einfach mit den eben doch auch den Mythos ansprechenden Bühnenbildern perfekt darauf abgestimmten Beleuchtung, sowie der darin nicht nur exzellent, sondern gar filigran ausgearbeiteten Personenregie zusammen, eben der erwähnte Spagat. Wobei man annehmen muss, dass die Sänger vieles auch von allein so gestalteten, wie man es erlebte, einfach aus der besagten Unvoreingenommenheit und ihrer individuellen darstellerischen Intelligenz heraus.

Die Annäherung Sieglindes und Siegmunds verläuft unglaublich zwingend, mit viel Emotion und auch einer gewissen Erotik, die man sonst so oft vermisst. Das Ganze wird gestört von einem ausdrucksstarken und imposanten Hunding, dem man seine weit über Rachegelüste hinaus gehende Eifersucht sofort abnimmt. Noa Danon besticht mit einem charaktervollen, dunkel getönten Sopran, der mühelos alle Klippen der Sieglinde meistert. Dazu kommen eine aussagekräftige Mimik und ein gehöriges Maß an Empathie für das Schicksal Siegmunds. Diesen gibt Richard Furman kämpferisch mit einem prägnanten und durchschlagskräftigen Heldentenor, der ein für diese Rolle ungewöhnlich hohes Timbre aufweist, was sich aber nie als Nachteil heraus stellte. Sein „So blühe denn Wälsungenblut!“ konnte er damit voll auf Gesangslinie und auch lang gehalten singen. Das hört man so nicht alle Tage! Er könnte sich damit auch für den Siegfried empfohlen haben. Johannes Stermann ist ein furchterregender Hunding mit etwa 1,90m und verfügt auch über einen ebenso Respekt gebietenden klangvollen Bass. Die drei bildeten ein kongeniales Trio.

Den 2. Aufzug leitet Julia Borchert mit ihrem Rollendebut als Brünnhilde ein, und nicht nur wegen ihres mitreißenden „Hojotoho“ konnte man kaum glauben, dass sie die Titelrolle zum ersten Mal sang. Sie verfügt über einen gut geführten, ausdrucksstarken Sopran bei bester Diktion. Auch ihr engagiertes Spiel mit Wotan und ihr Verständnis sowie die damit einhergehende Empathie sind bemerkenswert. Letztere wird noch gesteigert in einer endlich einmal auch facettenreich dramatisierten Todverkündigung. Mit den Erzählungen Brünnhildes verändert sich die betongraue Wand, vor der Siegmund und Sieglinde erschöpft zu Boden gesunken sind, in einen romantisch anmutenden Wald der Ruhe und paradiesischer Assoziationen. Wenn Siegmund ihre Empfehlung, nach Walhall zu gehen, ablehnt, wird alles wieder grau.

Dafür entdeckt Brünnhilde intensiv nachvollziehbar, was Liebe bedeutet. Sie küsst den Helden innigst und voller Überzeugung für die Richtigkeit ihrer Entscheidung gegen Wotan – ja kommt sogar nochmal zurück, um ihn zu umarmen! Zuvor erleben wir die Härte und absolute Verständnislosigkeit, mit der die matronenhafte Fricka Wotan als Machtmenschen und Politiker entlarvt, wie der Regisseur es sieht – und damit hat er wohl Recht. Bei „Das kann mein Gatte nicht wollen, die Göttin entweiht er nicht so!“ hält sie seinen Speer – und damit das berühmte Heft – in der Hand! Ks. Undine Dreißig, seit vielen Jahren im Ensemble, passt gut zur Rolleninterpretation in dieser Inszenierung und singt mit ausdrucksstarkem Mezzo, bei gelegentlichen kleineren stimmlichen Unsauberkeiten. Bevor sie abgeht, sieht man ein spannungsgeladenes Dreieck zwischen Fricka, Brünnhilde und Wotan. Blicke sagen hier alles!

Beim Monolog darauf blickt ein riesiges Gesicht – jenes Wotans – mit blindem Auge wie er kontrollierend auf die Szene. Also, er ist in der Tat im Gespräch mit sich selbst und erkennt bald sein eigenes Versagen. Bei seinem „Auf geb‘ ich mein Werk; nur Eines will ich noch: das Ende – –, das Ende! –“ verfließen die Konturen – Wotan endet auch optisch. Ein interessanter Einfall des Regisseurs. Wotan scheitert hier nicht am Dialog mit Fricka, nein, er scheitert nach eigener Erkenntnis im Dialog mit Brünnhilde an sich selbst. Lucia Lucas kann hier zeigen, was ihr technisch perfekt geführter Bassbariton vermag. Er ist heller eingefärbt als bei einer männlichen Stimme, besitzt aber bei großer Wortdeutlichkeit sehr hohe Ausdruckskraft, die gerade bei Lucas auch immer mit einer beeindruckend auf die jeweilige Situation abgestimmten Mimik einhergeht. Natürlich gelingen Höhen wie „…gierig hielt ich das Gold!“ mühelos und gar glänzend. Aber auch im tieferen Register spricht die Stimme gut an. Ohne Probleme überstrahlt sie das Orchester, auch wenn GMD Kimbo Ishii gelegentlich etwas zu stark aufträgt. Ebenso dramatisch wie erschütternd inszeniert Peters-Messer schließlich den Kampf zwischen Siegmund und Hunding. Auf offener Bühne – und nicht peinlich versteckt zwischen Baum-Stangen im Hintergrund wie in der Bechtolf-Inszenierung in Wien – findet er statt. Sowohl Brünnhilde als auch Wotan treten klar sichtbar auf. Ist Siegmund tödlich von Hunding getroffen, versucht er mit letzter Kraft und wutverzerrtem Gesicht nochmals auf ihn loszugehen, wird aber vom eigenen Vater zu Boden gedrückt – bis er stirbt. Das war schon großes Musiktheater! In Magdeburg und nicht in Wien.

Im 3. Aufzug erleben wir eine dramatisch beeindruckend gestaltete Auseinandersetzung von Lucia Lucas mit den allesamt sehr guten Walküren (Jeanett Neumeister als Helmwige; Raffaela Lintl als Gerhilde; Uta Zierenberg als Ortlinde; Monica Mascus als Waltraute, Isabel Stüber Malagamba als Siegrune; Emilie Renard als Rossweiße; Lucia Cervoni als Grimgerde und Henriette Gödde als Schwertleite). Diese – so auch noch nie gesehen – wollen Brünnhilde davon abhalten, sich mit Sieglinde abzugeben, ein Zeichen ihrer völligen Empathielosigkeit aufgrund mangelnder, ihrer Schwester unterdessen zuteil gewordener Liebes-Erfahrung.

Es folgt sodann eine Vater-Tochter-Auseinandersetzung, die einige ganz neue Facetten aufzeigte und einmal mehr den unglaublichen Interpretationsreichtum des Wagnerschen Oeuvres vor Augen führte. Lucia Lucas singt diesen Aufzug mit dem Wotan-relevanten Aplomb und großartiger, bisweilen zu Herzen gehender schauspielerischer Ausdruckskraft. Aber auch Julia Borchert zeigt hier, mit Orientierung des Regisseurs, einmal mehr ihr Talent in der Darstellung der Brünnhilde. Bei der ebenso berühmten wie berührenden Phrase „Der diese Liebe mir in’s Herz gehaucht, …“ steht sie hinter Wotan im Lotussitz wie Gurnemanz in der Karfreitagsaue hinter Parsifal. Ein beeindruckendes Bild, das unzweifelhaft die Größe der Tochter gegenüber dem Vater in diesem Moment dokumentiert. Schon recht früh in dieser Auseinandersetzung wird zudem klar, dass der Zorn Wotans so stark gar nicht ist, denn bei „… da labte süss dich selige Lust;“ gibt es schon die Umarmung, die oft erst bei dem bekannten musikalischen Höhepunkt gegen Schluss erfolgt. Schon hier liefert Lucia Lucas emotional eindrucksvoll das erste Schuldbekenntnis ab. Nur wider Willen reißt sie sich bei „Deinen leichten Sinn lass dich denn leiten: von mir sagtest du dich los.“ nochmal von Brünnhilde los, um bei „Leb‘ wohl, du kühnes herrliches Kind!“ vor ihr auf die Knie zu gehen und nach dem finalen Bannspruch vor der schon Schlafenden endgültig in Verzweiflung zusammen zu brechen. Statt den Speer in die Höhe zu recken, lässt ihn Peters-Messer Lucia Lucas aus der Hand gleiten. Und sie spielt mit Julia Borchert diese Szenen einfach so berührend menschlich und einleuchtend, dass ganz sicher nicht alle Augen in Magdeburg trocken blieben…

Der Magdeburger GMD Kimbo Ishii dirigierte die Magdeburgische Philharmonie mit eher zügigen Tempi, was den Sängern in ihren neuen Rollen neben den guten akustischen Bedingungen durch die Bühnenaufbauten sicher entgegen kam. Ishii legte auch Wert auf hohe Dynamik und starken musikalischen Ausdruck, was hier und da zu etwas zu großer Lautstärke führte. Angesichts der vielen und zumal weichen Zwischentöne der Inszenierung, immer wieder in den guten Streichern, aber auch im Holz zu hören, wäre hier gelegentlich etwas mehr Gefühl passend gewesen. In jedem Falle ließ die Magdeburgische Philharmonie großes Wagner-Verständnis hören, welches angesichts der Interpretation der „Walküre“ auf einen Fortgang dieses „Ring“ hoffen lässt. Zumindest derzeit noch ist Karen Stone für das Thema nicht zu haben. So klang es jedenfalls auf der Premierenfeier durch. Man hat mit der Magdeburger „Walküre“ neue Zeichen in der Interpretation des „Ring“ gesetzt, woran man mit diesem Team für die „Ring“-Rezeption bereichernd fortfahren könnte. Die standing ovations, die nicht nur Lucia Lucas für ihre Leistung bekam, zeigten auf, dass die Intendantin das Publikum auf ihrer Seite hätte…

Fotos (c) Andreas Lander, Schlussapplaus (c) Billand / Der Opernfreund

Klaus Billand, 21.9.2018,