Vorstellung am 16.9.2017
Auch wer mit der musikalischen Sprache Franz Schrekers bisher nicht so vertraut war – spätestens nach dem rund zehnminütigen Vorspiel muss man sie lieben, diese ungemein sinnliche, flirrende, ekstatisch sich aufschwingende Musik, die sich in feinst dahin getupfte, intime Sphären zurückziehen kann, um unvermittelt wieder heranzubrausen, sich in geheimnisvollen Dur/Moll Schwankungen zu suhlen, mit einer Farbenpracht der Instrumentierung aufzuwarten, die selbst Richard Strauss‘ Genius übertrifft. Das Sinfonieorchester St. Gallen unter der sicheren und leidenschaftlichen Leitung von Michael Balke meisterte die schwierige, aber dankbare Aufgabe mit einfühlsamer Souveränität, kostete die soghafte, mitreissende Wirkung dieser Musik (mit Suchtpotential … ) mit Geschmack, engagierter Spielfreude und überzeugendem Können durch alle Instrumentenfamilien hindurch grandios aus. Dabei achtete Michael Balke sehr genau darauf, dass sich die orchestrale Seite nie zu stark in Richtung Schwulst einer Filmmusik neigte (ohne die überwältigenden Effekte zu negieren), sorgte für Transparenz und ausgewogene Balance zwischen Bühne und Orchestergraben.
Man konnte sich an diesem Abend kaum satthören an diesem spätromantischen, reichhaltig instrumentierten Klangrausch (mit mehrfach geteilten Violinen, ausdrucksstarken Celli, Harfe, Celesta, exzellente Holz- und Blechbläser), der sich nach der Ouvertüre in diversen Zwischenspielen fortsetzte, einen stark motivisch geprägten Untergrund für die Gesangsstimmen bildete, ein manchmal irisierendes, dann wieder verdichtetes Gewoge aus Sehnsucht, Erotik, Dramatik und martialischen Klängen formte.
Einfach zu besetzen ist die Oper wahrlich nicht, denn sie erfordert ausdrucksstarke Sängerinnen und Sänger, die bis zum Äussersten gehen können, ohne dass die Klarheit und Schönheit der Gesangslinie verloren geht, denn sonst droht ein Abgleiten in hysterische Gefilde, die niemand in diesem Werk haben will. Herausragend gut gelungen ist dies in St. Gallen dem ehemaligen Ensemblemitglied des Hauses, Jordan Shanahan, in der Rolle des Grafen Vitellozzo Tamare. Sein einnehmend timbrierter Bariton strahlte Testosteron geschwängerte Potenz und überhebliche (aber überaus charmante) Selbstverliebtheit, sichere Tongebung und markante Linienführung und exzellente Diktion aus. Er bildete das Gegen- und Über-Ich des verkrüppelten, von Selbsthass geprägten Alviano Salvago, der seinen körperlichen Minderwert und die damit verbundenen Komplexe im Streben nach Schönheit zu sublimieren versuchte – kläglich scheiterte, und im Wahnsinn endete. Andreas Conrad gelang mit der Interpretationen dieses komplexen Charakters erneut eine sängerische und vor allem auch darstellerische Glanzleistung in St. Gallen (wo schon sein Herodes in SALOME tief beeindruckt hatte). Herausragend seine Diktion, die Sicherheit der Intonation, mit der er die hohe Tessitura bewältigte, ohne eben hysterisch oder allzu exaltiert zu klingen. Der Moment, in dem ihm klar wurde, dass Carlotta nicht ihn, sondern Tamare begehrt hatte, sich selbst sterbend nach diesem sehnte, gehörte für mich zum eindringlichsten Augenblick des Abends: Wie sich da langsam der Wahnsinn über Andreas Conrads Gesicht ausbreitete, das war schlicht atemberaubend gut gespielt. Die Frau zwischen diesen beiden Männern ist Carlotta, herzkrank, den eigenen baldigen Tod vor Augen, will sie ihre kurze Zeit des irdischen Daseins, des Frau Seins, noch auskosten.
Claude Eichenberger legte die Rolle sehr diesseitig an, sie war nicht die zerbrechliche Femme fragile, die sich in ätherischem Schöngesang ihrem Schicksal ergibt, sondern eine schon fast moderne junge Frau, die endlich den leidenschaftlichen Sex erleben will, auch wenn dies den noch schnelleren Tod bedeutet. Zwar neigte die Stimme der Mezzosopranistin in den höheren Lagen manchmal zu Verhärtungen und unschön schriller Tongebung, doch vermochte sie in ihren langen Monologen durchaus subtile und zärtliche Momente zu evozieren, gestaltete die Rolle vor allem in der grossen Szene im Atelier mit Alviano am Ende des zweiten Aktes mit wunderbarer Empfindsamkeit und öffnete den Blick auf ihre Verletzlichkeit – auch sie eine Gezeichnete. Ihren Vater (Podestà) sang Martin Summer mit überaus gepflegter, wohlklingender Bassstimme. Ausgezeichnet auch der junge Herzog Adorno, gesungen mit differenziertem, fein artikulierendem Bass von Tomislav Lucic (er sang im dritten Akt auch die Rolle des Capitaneo di gustizia, wo er durchaus noch etwas markanter hätte auftrumpfen können). Wichtig für das Verständnis des Stücks sind auch die kleineren Partien. In St. Gallen wurde die wichtige Nebenhandlung (Pietro, Martinuccia) komplett gestrichen, ebenso die Szenen mit den Senatoren, mit dem Jüngling, mit der Familie. Immerhin durfte die von den Adligen entführte und missbrauchte Ginevra Scotti (Sheida Damgani) im dritten Akt auftreten, da die Vorgeschichte mit Pietro und Martinuccia jedoch fehlte, war es für die mit der Oper nicht so vertrauten Zuschauer schwierig, die Szene wirklich zu verstehen. Diese Frauen verachtenden, überheblichen Adligen wurden von Nik Kevin Koch, Riccardo Botta, David Maze, Andrzej Hutnik, Bastian Thomas Koch und Matthias Bein treffend dargestellt. (1. Akt, ihr Auftritt im dritten Akt fiel ebenfalls den Strichen zum Opfer)
Für die Inszenierung und die Ausstattung verantwortlich zeichnete Antony McDonald, dem eine insgesamt sehr stringente, konzentrierte und spannende Inszenierung gelang. Insbesondere die genaue Personenführung vermochte zu überzeugen, ein intensives Kammerspiel, jenseits aller konventioneller Operngestik. Dazu gehören z.B. die Darstellung der abgehobenen Adligen als überhebliche Schnösel einer Studentenverbindung. Herausragend natürlich alle Szenen mit Shanahan: Im ersten Akt räkelt er sich wie eine Schlange auf dem Billardtisch und versucht Carlotta mit der Billardkugel (die verbotene Frucht … ) zu verführen. Im zweiten Akt lässt Antony McDonald die wichtige Dialogszene zwischen Tamare und dem Herzog in einer Art Locker Room spielen (nach der körperlichen Ertüchtigung durch Fechten) – ein Ort zur Pflege von Männerfreundschaften, politischem Gemauschel, Austausch von und Prahlen mit erotischer Eroberungen. Im dritten Akt, der auf dem Eiland Elysium spielt, sehen wir den Schriftzug ELYSIUM, der stark an den berühmten HOLLYWOOD Schriftzug in L.A. erinnert. Für die letzte Szene drehen sich dann diese riesigen Buchstaben und man erkennt die dunkle Rückseite der „Traumfabrik“ oder eben von Alvianos Traum eines paradiesischen Eilands: Versklavte Sexdienerinnen für die Mächtigen, Schönen und Reichen. Das ist grossartig gemacht und weitaus überzeugender als das doch etwas gar biedere Ballett mit Faunen und Nymphen zu Beginn des dritten Aktes (Choreografie: Beate Vollack), wo dann die Bürger Genuas in Gewändern von Amish People oder Quäkern einen gar nicht allzu grossen Kontrast zu den braven Faunen darstellen. Das hätte man durchaus etwas mutiger und provozierender herausarbeiten können. McDonald verlegte die Handlung von der Renaissance in die Entstehungszeit der Oper, die Zeit des aufkeimenden Faschismus. Damit ist er ganz nahe beim ideologischen Fundament von Schrekers selbst verfasstem Text, nämlich den kruden, die Frauen und Juden herabsetzenden und von homosexuellen Phobien nur so wimmelnden Theorien (Geschlecht und Charakter) von Otto Weininger, diesem zum Protestantismus konvertierten Juden, der im Alter von 23 Jahren Selbstmord begangen hatte und dessen 600seitige Schrift danach von Leuten wie Strindberg, Tucholsky (und auch Mussolini ..) aber durchaus differenziert gewürdigt wurde. Bashevis Singer brachte es auf den Punkt: „Verrückt und genial“. Denn besonders eine Erkenntnis Weiningers ist dann neben aller Abscheulichkeiten seines Ergusses eben durchaus wichtig und prägend für das Verständnis von DIE GEZEICHNETEN: „Wie man im anderen nur liebt, was man gern ganz sein möchte und doch nie ganz ist, so hasst man im anderen nur, was man nimmer sein will, und doch immer zum Teil noch ist. …. Man hasst nicht etwas, womit man keinerlei Ähnlichkeit hat. Nur macht uns oft der andere Mensch darauf aufmerksam, was für unschöne und gemeine Züge wir in uns haben.“ Und über diese Dinge nachzudenken, dazu animiert uns Schrekers grandiose Opernschöpfung – die Aufführung in St. Gallen leistet dazu (neben dem genüsslichen Schwelgen in spätromantischen Klangwelten) einen wichtigen Beitrag.