Paris, Théatre des Champs-Elysées: „Les mamelles de Tiresias / Le Rossignol“, Poulenc / Strawinsky

Zwei wenig bekannte „Erstlings-Opern“ in einem unerwarteten „Doppel“ mit einer hervorragenden Sabine Devieilhe, so wie wir sie noch nicht kannten.

(c) Vincent Pontet

Wie inszeniert man heute eine Oper, die nur knapp 1 Stunde dauert? Man setzt eine andere daneben. Meist eine ähnliche, wenn möglich von dem gleichen Komponisten. In Paris schlägt der Regisseur (und langjähriger Theater- und Festivaldirektor) Olivier Py nun bewusst einen anderen Weg ein in seinem hochinteressanten Poulenc-Zyklus am Théâtre des Champs-Élysées. Nach einem eindrucksvollen Anfang 2013 mit „Dialogues des Carmélites“ folgte 2021 die kurze Oper „La Voix humaine“, die er sehr originell mit einer eigens dafür geschriebenen Uraufführung kombiniert: „Point d’orgue“ von Thierry Escaich, wo man die gleichen Personen noch einmal aus einem anderen Blickwinkel erlebte (leider Pandemiebedingt damals nur als Stream zu erleben). Nun wiederholt er dieses gleiche Prinzip wieder mit zwei sehr unterschiedlichen Werken: „Le Rossignol“ (die Nachtigall) ist die selten gespielte erste Oper von Igor Stravinsky (der selbst seinen Namen mit einem v schrieb). Der erste Akt entstand 1908/09 noch in einer Russisch-romantischen Art, inspiriert durch Rimski-Korsakow nach einem Märchen von Hans-Christian Andersen. Der zweite und dritte Akt folgten erst 1913/14, auf Bitten von Serge de Diaghilev, nachdem beide 1913 einen Riesen-Erfolg hatten mit dem „Sacre du Printemps“ am Théâtre des Champs-Élysées. Denn Diaghilev brachte in seinen „Saisons Russes“ in Paris jedes Jahr eine bewundernswerte Reihe neuer Uraufführungen. So ging das „Lyrische Märchen“ (conte lyrique) „Le Rossignol“ schon am 26. Mai 1914 in Paris in Premiere und wurde relativ schnell vergessen, auch weil gleich danach der erste Weltkrieg ausbrach, nachdem alles anders war. Stravinsky war auch nicht zufrieden mit seiner „Die Nachtigall“ und hat sie mehrmals überarbeitet, zuletzt 1962 (die Fassung, die nun gespielt wird). „Les Mamelles de Tirésias“ (Der Busen/Die Brüste von Tiresias) ist ebenfalls eine Erstlingsoper, aber von einem ganz anderen Genre. Das Libretto ist eine Bearbeitung des „drame surréaliste“ – anscheinend das aller erste Mal, dass der Begriff surrealistisch in der Literatur erschien – von Guillaume Apollinaire. 1917 mitten im ersten Weltkrieg geschrieben, durch einen Front-Soldaten, der spürte, dass er den Krieg nicht überleben würde, und der mit bissiger Ironie die damals hochpräsenten Vaterländischen Parolen – unter anderem, dass die Franzosen Kinder zeugen sollen um die Millionen gefallenen Soldaten zu ersetzen – durch den Kakao zog. Francis Poulenc komponierte sie mitten im zweiten Weltkrieg, als man wieder täglich solche Vaterländischen Parolen im Rundfunk hörte, und seine „Opéra-bouffe“ wurde 1947 an der Opéra Comique uraufgeführt. „Eine Oper für Kinder und eine Oper um Kinder zu zeugen“ – so fasst Olivier Py sein Regiekonzept mit einem originellen Bonmot zusammen.

(c) Vincent Pontet

Brüste fliegen in einer Zanzi-Bar durch den Zuschauerraum

„Les Mamelles de Tirésias“ hat eine teilweise urkomische und bewusst provozierende Handlung: Thérèse ist ihr biederes Hausfrauendasein gründlich leid und beschließt ein Mann zu werden. Sie schneidet ihre Brüste ab, die – so die Anweisung im Libretto – durch den Zuschauerraum fliegen und lässt sich einen Bart wachsen. Sie reist nun als Theresias durch die Welt um den Geschlechtertausch zu propagieren: jeder Mensch soll selbst entscheiden können, ob er eine Frau oder ein Mann sein will. Und Frauen brauchen keine Kinder zu bekommen – das können die Männer auch ohne sie. Thérèses Ehemann, ein Soldat auf Fronturlaub, wird so lange als Frau angezogen, im Haus eingesperrt und als er es endlich schafft einen Polizisten zu rufen, sieht dieser in ihm eine wehrlose Frau, mit der man machen kann, was man will… Resultat: der Mann bekommt in kürzester Zeit 40.049 Kinder, was nicht nur in seinem Haus, sondern auch in ganz „Zanzibar“ für praktische Probleme sorgt. Doch diese will er nicht wahrhaben: Kinder, die so einen begabten Vater haben, können nur erfolgreiche Künstler werden „wie Picasso“ – der mit Guillaume Apollinaire befreundet, 1917 bei der Uraufführung im kleinen Théâtre Maubel in Montmartre im Saal saß. So träumt er Fläschchen gebend von den vielen Tantiemen, die ihm seine vielen begabten Kinder einmal überreichen werden…

Auch wenn dies eigentlich die erste Operette ist, die Oliver Py selbst inszeniert, ist er mit diesem Genre schon seit langen vertraut, vor allem weil sein langjähriger Partner, der Bühnen- und Kostümbildner Pierre-André Weitz, darin ein angesehener Meister ist. (Wir haben 2017 seine Erstlings-Inszenierung in Nantes, „Mam’zelle Nitouche“ von Hervé, rezensiert, in der übrigens Olivier Py schon eine Travestie Rolle spielte.) Py und Weitz siedelten die Handlung an in einer Zanzi-Bar in Cannes, die Apollinaire und Poulenc anscheinend gut gekannt haben und die eine der allerersten homosexuellen Bars/Cabarets in Europa war. Also nicht mit Girls, sondern mit Boys und Transvestiten, die mit viel Federn und Strass das gut gelaunte Publikum (den Chor) amüsieren. Laurent Naouri kommtals Theaterdirektor (Le Directeur de théâtre) im roten Frack mit den Boys die große Treppe runter und erinnert das Publikum daran, dass der Sinn des Stückes ist, unsere „veralteten Sitten“ zu „reformieren“, sich gut zu amüsieren und bitte gleich nach dem Ende der Vorstellung „viele Kinder zu zeugen“. Der Text sorgte nun beim Pariser Publikum für viele Lachsalven, da es unerwarteterweise um total aktuelle Themen geht, die in den hiesigen Medien viel besprochen werden: Gender, das Gendern, Transgender-Identität & Rechte und das alles in einer Stadt, wo zurzeit fast Zehn Tausend Tonnen Müll (!) auf der Straße liegt, weil wegen den geplanten Gesellschafts-Reformen der Regierung hier auch die Müllabfuhr streikt… Naouri singt dazu den Prolog absolut fulminant – man hätte sich vor 30 Jahren gar nicht vorstellen können, dass sich seine Stimme im Alter noch so entwickeln würde. Nach einem großen Applaus läuft die Show weiter wie vom Schnürchen: alles ist auf den Millimeter professionell geregelt und die offensichtlich gut aufeinander eingespielten Darsteller – viele haben schon oft miteinander und mit dem Regisseur zusammengearbeitet – haben deutlich einen Riesenspaß, der sich auf das sonst so steife und vornehme Publikum des Théâtre des Champs-Élysées übertrug, das bei den durch den Saal fliegenden Brüsten und Babys (kleine Puppen), auch gerne mitmachte.

(c) Vincent Pontet

Sabine Devieilhe war in der Doppelrolle der Thérèse-Tirésias und einer Wahrsagerin (La Cartomancienne) der Star des Abends. Denn man kennt sie in Paris seit zehn Jahren hauptsächlich als diaphaner Koloratur-Sopran (Lakmé, Königin der Nacht, Ophélie in „Hamlet“ etc) oder im Barock-Repertoire (wunderbare Platten mit ihrem Mann Raphaël Pichon und seinem Ensemble Pygmalion). Und nun konnte man hören, dass sie auch eine perfekt beherrschte Mittellage hat und vor allem sehen, dass in ihr noch ein ganz anderes Bühnentier steckt: Einfach herrlich, mit welcher Autorität sie „die Hosen anzog“, ihren Mann fesselte, um als „Emanze“ die Welt revolutionieren zu wollen. Jean-Sébastien Bou konnte ihr stimmlich und darstellerisch als Ehemann (Le mari) wunderbar die Bälle zuspielen und hatte ebenfalls einen Riesen Erfolg. Rodolphe Briand, den wir auf dieser gleichen Bühne schon oft in vielen komischen Offenbach-Rollen gesehen und gehört haben, spielte nun als dicke Dame (Une grosse dame) und als ebenso dickes Kaninchen (Le fils) ebenfalls Karten aus, die wir bei ihm nicht vermutet hätten: Er könnte mühelos in einem Nachtklub auftreten! Bei den drei weiteren männlichen Nebenrollen, war man verblüfft wie gut sie singen konnten, obwohl sie öfters in der Show mit den Boys mittanzten: Victor Sicard als Polizist mit verstecketen Sado-Maso-Vorlieben (Le Gendarme), Francesco Salvadori als Monsieur Presto und, vor allem, Cyrille Dubois als Monsieur Lacouf und herrlich parodierter Reporter (Le journaliste parisien). In diesem Sinne ein besonderes Lob für die beschwingte und zugleich Sängerfreundliche Choreographie, für die niemand im Programmheft erwähnt wird, aber bei der Daniel Izzo, langjähriger Assistent von Py und ursprünglich Tänzer, sicher sein Wissen eingebracht hat. Die beiden weiteren Damen verblassten da etwas. Doch das lag sicher nicht an den exzellenten Sängerinnen, Chantal Santon Jeffery (La Cuisinière / Une dame élégante) und Lucile Richardot, sondern an ihren Rollen (bei ihr wurden alle Rollen zusammengefasst als La Mort, der Tod). Womit wir bei der „Kehrseite der Medaille“ angelangt wären.   

(c) Vincent Pontet

„Die Nachtigall“ als Kehrseite der Medaille

Wie schon erwähnt, es ist nicht einfach zwei solch verschiedene Stücke zu kombinieren. Wir haben die fröhlichen aber leider sehr selten gespielten „Les Mamelles“ zum letzten Mal rezensiert 1991 im Châtelet (in der Ära Lissner), wo sie zusammen gespielt wurden mit den lustigen „L’enfant et les Sortilèges“ von Maurice Ravel und „Parade“ von Eric Satie in einem bunten Bühnenbild von David Hockney. Der ebenfalls selten aufgeführte „Le Rossignol“ wurde damals – 1997 auf Wunsch von Pierre Boulez – zusammengespielt mit „Pierrot Lunaire“ von Arnold Schönberg. Also zwei ganz verschiedene Welten, die Olivier Py nun zusammenfasst als Eros und Thanatos – Liebe und Tod. Die einsame „Nachtigall“ wird also die Kehrseite von den fröhlichen „Brüsten“ und deswegen wird sie auf der Hinterbühne der „Mamelles“ inszeniert. Wir sehen dann also das Bühnenbild von hinten während einer Vorstellung von „Les Mamelles“, wo die wenig bekleideten Boys sich vorbereiten und die anderen Darsteller in Windeseile ihre bunten Kostüme wechseln. In mitten dieses ganzen Trubels steht ein einfaches Gitterbett, in dem ein alter Mann, Sébastien Bou (ein alter Schauspieler? – im Märchen & Libretto eigentlich der Kaiser von China), langsam stirbt, während die Figur des Todes ihn immer näher umkreist (Lucile Richardot) und die liebe Nachtigall noch einmal für ihn singt (Sabine Devieilhe). Das tut sie ganz wunderbar, aber da der Abend mit „Le Rossignol“ beginnt, ist die Handlung für das Publikum wenig verständlich. Man versteht nicht, wer diese ganzen hektisch umherlaufenden Darsteller in ihren bunten Kostümen sind, weil „Les Mamelles“ erst nach der Pause folgt. Dramaturgisch wäre es andersrum verständlicher gewesen, aber musikalisch war es in dieser Reihenfolge natürlich besser, denn nach den fröhlich-frechen „Brüsten“, hätte man schwierig in die poetische „Nachtigall“ eintauchen können. Der Dirigent François-Xavier Roth, der mit seinem Orchester Les Siècles und dem Chor Ensemble Aedes, beide Stücke ganz hervorragend dirigiert hat, erklärt in einem Interview, dass dieses Doppel ursprünglich ein Wunsch von Sabine Devieilhe war (als sie vor zehn Jahren für „Lakmé“ zusammengearbeitet haben). Das ist absolut verständlich, denn es geht um eine Ausnahme-Sängerin, die aus dem Korsett des Koloratur-Soprans ausbrechen will. Sie singt die Nachtigall berührend schön und wollte nun auch einmal „die Hosen anziehen“, wo sie ebenfalls absolut makellos gesungen hat. Und der Erfolg der „Mamelles“ war so groß, dass man die „Kehrseite der Medaille“ dann auch in Kauf nahm. Ein Grund für das große Interesse des Publikums und der hiesigen Medien im rammelvollen Theater war/ist, dass Olivier Py kurz vor der Premiere zum neuen Direktor des Châtelet gekürt wurde, das seitdem die dortige Direktorin 2020 während der Pandemie das Handtuch warf, nur noch per interim geleitet wird. Es wird im Châtelet also unter seiner Leitung sicher bald wieder amüsant werden – und vielleicht auch interessant. Wir sind gespannt!

Waldemar Kamer 16. März 2023


Francis Poulenc: Les Mamelles de Tirésias
Igor Strawinky: Le Rossignol

Théâtre des Champs-Elysées, Paris

13. März 2023

Regie: Olivier Py
Musikalische Leitung: François-Xavier Roth
Orchester: Les Siècles

Trailer: https://www.theatrechampselysees.fr/tce-videos/divers

Bis zum 19. März im www.theatrechampselysees.fr

(Wiederaufnahme nächste Spielzeit in den Opern von Nice und Köln)