Zürich: Europäische Kulturpreisgala

Gioacchino Rossini: Allegro vivace aus Ouvertüre zu «Guillaume Tell»

Richard Wagner: «O! du mein holder Abendstern» – Bryn Terfel, Bassbariton

Die Toten Hosen: «Alles aus Liebe»

Ryūichi Sakamoto: «Merry Christmas, Mr. Lawrence» – Nigel Kennedy, Violine

Richard Strauss: «Morgen!» aus «Vier Lieder» op. 27 – Camilla Nylund, Sopran

Pjotr Tschaikowsky: Arie des Lenski aus «Jewgenij Onegin» – Sol Gabetta, Violoncello

Hector Berlioz: «Ouverture du Corsaire» op. 21 H. 101

Preisträger: Sir Bryn Terfel, Sol Gabetta, Mario Adorf, YELLO – Dieter Meier und Boris Blank, Camilla Nylund, Claudia Cardinale, Nigel Kennedy, Hannes Jaenicke, Die Toten Hosen, Tonhalle-Orchester Zürich, Paavo Järvi

Bereits zum fünften Mal fand gestern Abend die Gala zur Verleihung des Europäischen Kulturpreises statt. Nach der Elbphilharmonie in Hamburg, der Frauenkirche in Dresden, der Wiener Staatsoper und dem Opernhaus Bonn erhielt nun die Tonhalle Zürich die Ehre, als Austragungsort gewählt worden zu sein. Die Tonhalle war zwar gut besetzt – aber entgegen der Behauptung auf der Webseite des Europäischen Kulturpreises – beileibe nicht ausverkauft, was bei den saftigen Eintrittspreisen denn auch nicht gross erstaunte.

Die Preise werden vergeben an Künstlerinnen und Künstler, die mit ihrem Können und ihrer Persönlichkeit den Europäischen Gedanken und Werten verpflichtet sind, diese weitertragen an junge Generationen oder besondere Verdienste um das Thema Nachhaltigkeit erworben haben. Den rasanten Einstieg in den Galaabend gestaltete das Tonhalle-Orchester Zürich unter Paavo Järvi mit einem hinreissend gespielten Galopp aus Rossinis Wilhelm-Tell-Ouvertüre.

Durch den Abend führten die Moderatorin Sandra Studer und der Musiredakteur, Autor, Journalist und TV-Moderator Axel Brüggemann. Frau Studer leistete sich leider gleich zu Beginn einen eher geschmacklosen (und auch bereits abgedroschenen) Kalauer, indem sie konstatierte, Europa hätte zu Beginn der Woche um die Queen getrauert und die Schweiz hätte heute Nacht den King (Roger Federer) verloren. Zum Glück fand sie sie danach schnell zu ihrer gewohnten Form zurück. Axel Brüggemann hatte für die Preisträger jeweils einen kurzen Einführungs-Videoclip vorbereitet, war sich auch nicht zu schade, dafür in den Zürichsee zu springen (Wagner tauchte in Dresden unter und in Wollishofen wieder auf …), oder auf einem Tretboot zu fahren, um festzustellen, dass im Zürichsee nur wenig Plastikmüll liege, wie seine Taucher herausgefunden hätten.

Jeder Künstler erhielt von einer ihm verbundenen Persönlichkeit eine Laudatio vor Empfangnahme des Preises. Als erster hielt Opernhausintendant Andreas Homoki die Laudatio für Preisträger Sir Bryn Terfel. Der walisische Bassbariton bedankte sich mit Wolfgangs Lied an den Abendstern aus Wagners TANNHÄUSER (vielleicht nicht die beste Wahl), begleitet vom Tonhalle-Orchester Zürich unter der Leitung seines Music Directors Paavo Järvi. Als nächste Preisträgerin wurde die in Basel wohnhafte argentinische Cellistin Sol Gabetta ausgezeichnet, eine Kulturvermittlerin (z.B. beim Bayerischen Rundfunk), die sehr viel Jugendförderung leistet. Die weit ausholende (über Starkult und Virtuosentum im Musikbereich) Laudatio hielt Professor Stephan Schmidt, Direktor der Hochschule für Musik FHNW und der Musik-Akademie Basel. Sol Gabetta bedankte sich mit einem innig vorgetragenen Arrangement von Lenskis Arie aus Tschaikovskys Oper EUGEN ONEGIN, ebenfalls begleitet vom Tonhalle-Orchester Zürich.

Ich muss zugeben, ich habe Mario Adorf als Kind aus tiefstem Herzen gehasst. Als brutaler Gauner Santer erschoss er im Film WINNETOU 1 Winnetous Schwester Nscho-tschi (gespielt von Marie Versini), was mich unglaublich wütend machte. Nun erhielt der inzwischen 92jährige Schauspieler, der in der Laudatio von Schauspielkollegin Iris Berben in einer überaus intelligenten Würdigung so charmant und liebevoll als „Komplize der Kunst und Komplize des Lebens“ charakterisiert wurde, den Europäischen Kulturpreis. Mario Adorf wurde als Sohn deutscher Eltern in Zürich geboren, wuchs aber dann in Deutschland auf. Als junger Germanistik Student arbeitete er als Statist und Regieassistent am Schauspielhaus Zürich (für 90 Franken pro Monat, wie Brüggemann im Archiv des Schauspielhauses herausfand, wo ihm die Lohnabrechnungen für Mario Adorf von 1953 gezeigt wurden). Natürlich hat sich mein kindlicher Hass schon längst in grosse Bewunderung für die Schauspielkunst Mario Adorfs gewandelt.

Die nächsten Preisträger waren das Duo YELLO, Dieter Meier und Boris Blank, die verdienten Pioniere der elektronischen Musik, die aus Geräusschnipseln ungeahnte Musik erschaffen konnten und weltweit für ihre Avantgarde gefeiert wurden und noch immer werden. Ein Zeugnis ihres Könnesn lieferten sie gleich mit Hilfe von ein paar Mundgeräuschen ab, die Boris Blank auf sein Handy aufnahm und flugs bearbeitete. Dann folgte mit Niclas Castello ein bildender Konzept-Künstler als Preisträger, sein THE CASTELLO CUBE, dieser Würfel aus purem Gold (Materialwert ca 10 Millionen SFR), ist zur Zeit auf der Gemüsebrücke in Zürich ausgestellt, natürlich streng bewacht. Gegossen wurde das Kunstwerk in Aarau. Angeblich soll er damit auch Werbung für die Kryptowährung Castello Coin (Cast) machen, die von der HOGA AG in Zug herausgegeben wird, diese Firma hat den CUBE auch gesponsert. Der Laudator, der Kusnthistoriker Dieter Buchhart, sagte, dass dieser Kubus des Humanisten und Visionärs Castello uns eine andere Welt denken liesse, sowohl eine virtuelle, als auch eine reale. Das kann man so sehen … .

Die nächste geehrte Preisträgerin war die Sopranistin Camilla Nylund, die zur Zeit in Zürich als Brünnhilde in DIE WALKÜRE auf der Bühne des Opernhauses triumphiert. Ihre klug aufgebaute, seit 27 Jahren andauernde Karriere, ehrte der designierte Intendant des Opernhauses Zürich, Matthias Schulz. Seine Laudatio war so des Lobes voll, dass Camilla Nylund ihm anschliessend versprach, ihn in ihrem Testament zu berücksichtigen. Dann wandte sie sich mit launigen Worten ans Publikum, zog schelmisch über Regisseure her, die nicht Oper sondern sich selbst inszenierten, über Dirigenten, die ihre eigenen – falschen – Tempi als die richtigen durchzusetzen versuchten, über Lichtdesigner, die einen auf der Bühne alt aussehen liessen, über Bühnenbildner, gegen deren trostlose Bühnenbilder die Künstler ansingen müssten und Kostümbildner, die aus einem eine Witzfigur machten. Welch ein rarer Segen sei es dann, wenn wirklich einmal alles stimme. Hoffentlich hat der Laudator und künftige Opernhausintendant gut zugehört!!!

Nach dieser wirklich ehrlichen Rede bezeichnete sie sich als „Singvogel“ und sang ein berückend schönes Lied, MORGEN,von Richard Strauss, einfühlsam begleitet vom Tonhalle-Orchester, mit innigem Solo der Konzertmeisterin. Danach war die Reihe an der Filmdiva (sie selbst hört diese Bezeichnung gar nicht gerne) Claudia Cardinale, die eben gerade nie ein Diva im landläufigen Sinne war. Schauspielerin Maria Furtwängler ehrte die in Tunesien geborene Italienerin mit einer wunderschönen, tief empfundenen Laudatio, bezeichnete sie als Kämpferin für die Rechte und die Würde der Frauen, lange vor der #metoo Zeit. Eine Frau, die als Opfer einer Vergewaltigung mutig an die Öffentlichkeit gegangen war, Missstände gerade im Filmbereich angeklagt hatte und als UNESCO Botschafterin für die Wahrung der Rechte benachteiligter Frauen Vorbildfunktion repräsentierte. Eine Anekdote (Frau Cardinale musste lachen) gab Maria Frurtwängler in Bezug auf Cardinales Rolle in Werner Herzogs FITZCARRALDO zum besten: Oftmals rief der Regisseur Claudia Cardinale ans Set in den amazonischen Urwald, auch wenn sie gar nicht drehen musste, nur um den stets ausrastenden Klaus Kinski zu beruhigen!

Claudia Cardinale verwies in ihrer auf französisch gehaltenen Rede (sie wuchs im französischen Protektorat Tunis auf) auf die Werte der europäischen Kultur und drückte ihre Dankbarkeit darüber aus, dass es ein Privileg gewesen war, die europäische Kultur und deren Literatur (u.a. in IL GATTOPARDO von Visconti, 8 1/2 von Fellini) über ihre Rollen zu repräsentieren. Gerade das Kino vereine die unterschiedlichsten Künste und diesen wichtigen Dialog und Austausch fortzuführen sei eine wichtige Aufgabe.

Max Moor hielt nun eine theatralische Laudatio auf den nächsten Preisträger, den Stargeiger Nigel Kennedy, der schon auf dem Roten Teppich seinem Ruf als (überaus sympathisches und menschlich zugänglichs) enfant terrible der Klassikszene mehr als gerecht geworden war. Nur schon sein rotzfreches Outfit hob sich deutlich von den exquisiten Abendroben der ausgehungerten Models an der Seite älterer Herren im Smoking ab. Moor bezeichnete Kennedys Karriere als musikalische Abenteuerreise, eine Reise, die keine Angst vor Berührungspunkten mit anderen Stilrichtungen hatte, Kennedy sei ein Abenteurer und Entdecker, der so die Freude und die Freiheit der Kunst verkörpere. Chuzpe, Selbstbewusstsein und vor allem die Liebe zur Musik seien die Triebfedern des Menhuin Schülers Nigel Kennedy. Kennedy konstatierte (auch auf Deutsch), Musik sei Inklusivität und spielte zusammen mit dem Tonhalle-Orchester Zürich und Paavo Järvi einen Ausschnitt aus Ryūichi Sakamotos Filmmusik zu „Merry Christmas, Mr. Lawrence“, eine ganz wunderbare, viele Stilrichtungen vereinigende Musik. Herrlich! Das Tonhalle-Orchester wurde so mitgerissen, dass es gegen Ende stehend und sich im Rhythmus wiegend spielte.

Hannes Jaenicke, Schauspieler und Umweltaktivist, wurde für sein Engagement für Nachhaltigkeit ausgezeichnet. Seine Filmdokumentationen rütteln auf und bewegen die Menschen dazu, mehr Rücksicht auf Natur und Tierwelt zu nehmen. Die letztjährige Preisträgerin Barbara Meier hielt die Laudatio. (Frau Meier ist Repräsentantin von FairFashion, Botschafterin des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung für faire und umweltfreundliche Mode und Siegerin der zweiten Staffel von Heidi Klums Germany’s Next Top Model Show, verheiratet mit Klemens Hallmann, Geschäftsführer der HALLMANN HOLDING International Investment GmbH. Hallmann ist Mitglied des Kuratoriums des Europäischen Kulturpreises). Jaenicke zitierte in seinem Dank Dostojewski: „Das Einzige was die Welt retten kann, ist die Schönheit.“ Kultur und Natur seien eben Schönheiten, sagte Jaenicke.

Einen fulminanten Höhepunkt des Abends bildete die Auszeichnung der Band DIE TOTEN HOSEN. Der Frontmann der Band, Campino, sagte in seinem Dank, dass wir heute Abend in diesem Saal so viel Schönes gehört hätten, das man erst erfassen könne, wenn man mit dem Hässlichen einen Kontrapunkt gesetzt bekomme. Das taten DIE TOTEN HOSEN dann auch und das Zusammenspiel mit dem Tonhalle-Orchester unter Järvi fuhr ein wie ein Stromschlag, das war zwar nicht hässlich, wie Campino versprochen hatte, aber jegliche Sinne überwältigend! ALLES AUS LIEBE hiess der Song der sinfonisch aufgemotzt auf bombastischen Klangwolken schweben liess. WOW!

SRF – Direktorin Nathalie Wappler schliesslich hielt die Laudatio auf das Tonhalle-Orchester Zürich und seinen Chefdirigenten Paavo Järvi, die letzten der Preisträger der diesjährigen Gala: Sie hatten den ganzen dreistündigen Abend hindurch auf der Bühne gesessen, manche der Ausgezeichneten wunderschön und hinreissend begleitet und durften nun – nach Järvis hochemotionaler und die russischen Aggressoren in der Ukraine radikal anprangender, flammender Rede – den Europäischen Kulturpreis überreicht bekommen. Das Tonhalle-Orchester sei ein vorbildliches Beispiel für Toleranz und Menschlichkeit, 100 Musiker aus 32 Nationen, welche zusammen die gleichen Werte teilten, aufeinander achtgäben und sich gegenseitig beschützten. Noch nie sei es wichtiger gewesen, Europäer zu sein, meinte Järvi. Die Wahl des Stückes, mit welchem sich das Tonhalle-Orchester für die Auszeichnung bedankte, fiel auf Hector Berlioz‘ Ouvertüre LE CORSAIRE. Eine kluge Wahl, denn mit einem Werk des magischen Orchestrationskünstlers Berlioz konnte das Tonhalle-Orchester eindringlich seine Qualitäten an allen Pulten demonstrieren!

Kaspar Sannemann, 28.9.22