Wien: „Onegin“

Vorstellung am 23.09.2022

Gelungenes Rollendebüt

Bereits im Jänner 2022 hätte Solotänzerin Ioanna Avraam ihr Debüt als Tatjana geben sollen, aufgrund von Corona-Massnahmen wurde die Vorstellung damals leider abgesagt, aber gestern war es endlich soweit. Da die anderen Tänzerinnen bereits mehrmals in ihren Rollen zu erleben waren, wird in dieser Rezension hauptsächlich auf das Debüt von Avraam eingegangen.

Und gleich vorweg: Avraam ist eine Tatjana, die mit all ihren Vorgängerinnen sowohl darstellerisch, als auch technisch ex aequo mithalten kann, mehr noch, auf ihre authentische Weise gelingt ihr gleich in der ersten Vorstellung eine beispielhafte, detaillierte und gefühlvolle Interpretation! So erlebte man eine junge, verträumte Tatjana, die sich zu Beginn Romantik mit Bücheridylle zusammenreimt, und erst bei der ersten Begegnung mit Onegin erfährt, wie sich die erste grosse Liebe tatsächlich anfühlt. Auch wenn Onegin (hervorragend: Eno Peci) in der ersten Szene sein Solo tanzt und Tatjana meistens zuschaut, so agiert sie schon mit ihren Blicken eindeutig, jedoch nie aufgesetzt. Und wenn sie den Liebesbrief schreibt und sich über das Geschriebene freut, vermittelt sie ideal eine etwa 18-Jährige, die auf ein besseres Leben mit dem Traumprinzen hofft, und genauso stellt man sich eine Tatjana im 1. Akt vor. Im Spiegel-Pas de deux kommt ihre filigrane, saubere Technik neben puren Glücksgefühlen im Ausdruck bestens zur Geltung, Eno Peci, welcher den Onegin schon oft getanzt hat, ist besonders hier ein harmonischer Partner und absolut sicher in den anspruchsvollen Hebefiguren. Avraam schwebt geradezu schwerelos in seinen Armen. Eine Sternstunde!

Weiters vorbildhaft zeigt Avraam den Wandel im 2. Akt, wo Tatjana realisiert, dass der Liebesbrief nicht seine Wirkung erzielt hat, wie neben sich tanzt sie mit Gremin in der Gesellschaft und ist mit der Aufmerksamkeit klar bei Onegin, der schamlos mit Olga flirtet. Ihr Blick nach der Duellszene spricht Bände. Was Avraam ebenfalls überzeugend gelingt, ist dass sie im 3. Akt in ihrer Darstellung 10 Jahre vergehen lässt, jetzt ist Tatjana eine immer noch junge, aber realistisch gewordene, elegante Fürstin geworden, die in sich ruht und in Gremin (ein Gentleman: Andrey Teterin) einen Ehemann gefunden hat, den sie wirklich liebt. Der Pas de deux blüht von fliessenden Bewegungen, hier merkt man die jahrelange Bühnenerfahrung der beiden, ohne dass eine Routine im negativen Sinne aufkommen würde. In der Schlussszene bleibt kein Auge trocken, Eno Peci als geläuterter Onegin versucht verzweifelt, Tatjana für sich zu gewinnen, Ioanna Avraam ringt überzeugend mit sich selbst, Gefühle gegen Verstand, schliesslich siegt für den entscheidenden Moment der Verstand, um Onegins Brief zu zerreissen und ihn wegzuschicken, und die Gefühle, die Verzweiflung über die verlorene Liebe, zeigt sie nurmehr dem Publikum. Tatjana ist eine perfekte Rolle für Ioanna Avraam, bzw. Avraam ist eine Idealbesetzung für Tatjana.

Dass der vielseitige Eno Peci auch in tragischen Rollen reüssiert, beweist er einmal mehr, und gerade weil man ihn oft als herrlich-komisch in anderen Balletten (The Concert, Robbins) erlebt hat, ist es umso bewundernswerter, dass er als Onegin genau das richtige Mass findet, zwar in manchen Momenten richtig unsympathisch und arrogant – wie es der Rolle entspricht! Wer zerreisst schon Liebesbriefe am Geburtstag der Verehrerin… -, aber nie unfreiwillig komisch wirkt.

Elena Bottaro ist eine liebenswerte, mädchenhafte Olga, die den Ernst des Lebens erst in der Duellszene kennenlernt, Arne Vandervelde ein Lenski mit geschmeidigen Sprüngen und guter Partner für Bottaro. Franziska Wallner-Hollinek sorgt für einige Schmunzler als Amme und Alexandra Inculet ist eine noch etwas junge, aber elegante Madame Larina.

Unter der Leitung vom umjubelten Robert Reimer spielt das Orchester der Wiener Staatsoper die wunderschöne Musik von Tschaikowski in guten Tempi, die Piani werden geschmackvoll ausgekostet. Hier punkten Avraam, Peci und Vandervelde zusätzlich durch weiche Sprünge. Sehens- und hörenswert!

Folgevorstellungen: 26.9., 3.10.2022, sowie im Jänner 2023

Katharina Gebauer, 24.9.22