Premiere des Landestheaters Linz im Musiktheater am 6. Februar 2016
Wer hat vom Genre des Opernthrillers schon gehört? Zumindest „Tosca“ könnte einem dazu rasch einfallen, und als „Western-Oper“ die „Fanciulla“ – nicht zufällig zwei Klassiker des Verismo. Doch bei der Gruppe der „Zahnarzt-Opern“ wird wohl auch der erfahrenste Opernliebhaber, die weitest herumgekommene Raritätenexpertin aufgeben müssen. Zu allen diesen dreien gleichzeitig aber zählt die Programmzeitung unseres Landestheaters die amerikanische Oper, die uns heute als Premiere und europäische Erstaufführung ins Haus an der Blumau stand.
William Bolcom, geboren 1939 in Seattle, hat u. a. bei Milhaud und Messiaen studiert; seine Werkliste umfaßt 10 Symphonien, dazu Oratorien („Songs of Innocence and Experience“), Kammermusik, Konzerte – und, neben anderen Stücken für Musiktheater, drei Opern: „A View from the Bridge“ (1999), „A Wedding“ (2004) und „McTeague“, die erste der drei, uraufgeführt am 31. Oktober 1992. Alle wurden erstmals in der Lyric Opera of Chicago gegeben (die sie auch beauftragt hatte), und alle wurden dabei jeweils von Dennis Russell Davies dirigiert. Der seit der böse-realistischen Kriegssatire „MASH“ berühmte, immer zu Experimenten aufgelegte, vielfältig musikaffine Regisseur Robert Altman inszenierte und arbeitete auch am Text mit (nur nicht bei „Bridge“, das ein Theaterstück von Arthur Miller ist). Arnold Weinstein war Hauptlibrettist bei allen drei Opern.
McTeague war ursprünglich ein Roman (in der deutschen Ausgabe als „Gier nach Gold“ betitelt), erschienen 1899; erstmals wurde dieser Stoff 1924 von Erich von Stroheim verarbeitet: sein Film „Greed“ ist eine Hollywood-Legende an künstlerischem Anspruch wie Maßlosigkeit, Ausschweifung und Frustration – 85 Stunden Material wurden gedreht, 8 Stunden wollte Stroheim ins Kino bringen, und MGM-Produktionschef Irving Thalberg machte 2½ Stunden daraus. Filmarchäologen mühen sich seit den 1950ern, Stroheims „director’s cut“ wiederherzustellen…
Wie Stroheims Filmtitel erahnen läßt, geht es im Roman und schließlich auch in der Oper (die freilich auch in erwähnter „Thalberg-Länge“ bleibt) um ein Thema, aus dem ein anderer, ebenfalls legendär maßloser Künstler vier zusammenhängende Opern mit einer Gesamtlänge von etwa 15 Stunden gemacht hat: Gier, Neid und die daraus resultierenden Verwerfungen. McTeague spielt im Jahr 1900 in San Francisco und im Death Valley; der kalifornische Goldrausch ist freilich schon lange Geschichte – das Gold, um das es in der Oper geht, sind Golddollars aus einem Lotteriegewinn: Titelfigur ist ein lediglich „angelernter“ Dentist, der seine Schwierigkeiten mit Frauen hat, bis er die Cousine und Freundin seines Kumpels Marcus Shouler, Trina Sieppe, kennenlernt. Als die sich von McTeague heiraten läßt, bekommt McTeagues Freundschaft zu Shouler einen Riß, welcher sich drastisch vertieft, als Trina 5.000 Dollar in Gold gewinnt, das „ja eigentlich Shouler zustünde“. Aus Rache läßt Shouler McTeagues fehlende Qualifikation auffliegen, und so verliert McTeague seine Lebensgrundlage – derweil Trina auf dem gewonnen Vermögen sitzt, dass der Adler quietscht und die ihren Lebensunterhalt durch das Verscherbeln ihm ans Herz gewachsener Dinge bestreitet. Der Hass, jeder gegen jeden, wächst, und kann nur zu mörderischen Konsequenzen führen. Als tragikomischer Kommentar zu diesem Geschehen tritt immer wieder die etwas verrückte, kleptomanisch veranlagte, und in wohl irrealen „Erinnerungen“ gefangene Maria Miranda Macapa auf.
Bolcoms Kompositionsstil fußt auf serieller Technik; er hat sich jedoch auch ausführlich mit dem US-Musikerbe beschäftigt (war u. a. am Ragtime-revival in den 70ern wesentlich beteiligt), und das kommt auch in der McTeague-Partitur zum Ausdruck: als der Titelheld und Shouler noch gut miteinander befreundet sind, singen sie fröhlich gesetzte Duette in der Art des Barbershop-Gesanges (aus dem u. a. auch die Comedian Harmonists schöpften) – und beim Finale unter der sengenden Sonne des Death Valley, das durchaus in einen Tarantino-Film passen würde, erklingt dieser an sich fröhliche Stil, jetzt stark eingedunkelt, noch einmal. Die Straßen von San Francisco werden in Ragtime-Rhythmen charakterisiert. Und natürlich sind auch die einzelnen Rollen musikalisch klar definiert.
Inszeniert hat der Linzer Musicalchef Matthias Davids, Bühne Mathias Fischer-Dieskau, Kostüme Susanne Hubrich. Die Szenerie ist nicht nur epochegetreu in Kostümen und Requisiten (mit Unterstützung des OÖ. Zahnmedizinmuseums!), sondern nimmt auch mit liebevollen Details wie „Dreckrändern“ an Hosen, Röcken und Mänteln auf die Orte der Handlung bezug. Was aber geradezu als genial gelten kann, ist die Lösung, die Fischer-Dieskau mit den Linzer Technikern für die zahlreichen Szenewechsel gefunden hat, die durch filmschnittartige, nicht-lineare Erzählweise bedingt sind: man verwendet die Drehbühne, wobei einander aber nicht in klassischer Weise zwei oder drei vorbereitete Szenarien einander abwechseln, sondern stets der gesamte Bühnenraum in ganzer Größe zur Verfügung steht – die Häuser, Arztpraxisinnenraum etc. sind durch ein offensichtlich hochkomplexes Faltsystem u.a. mit Seilzügen umzulegen und ebenso schnell wieder aufzustellen, sodass alle Szenenwechsel von der Stadt zur Wüste im Handumdrehen in wenigen Sekunden offen erfolgen können. Und dieses System funktionierte auch noch absolut perfekt! Stets präsent ist eine riesige Scheibe, die als Sonne, Mond – oder als Projektionsfläche für Traumbilder dient. Dieser eindrucksvolle und eindrucksreiche Rahmen wurde mit einer sehr sorgfältigen und ebenfalls bis aufs kleinste Detail perfekt durchdachten und umgesetzten Personenregie gefüllt und belebt: es bewegten sich richtige Menschen auf der Bühne.
Während der Vorbereitungen im vergangenen Herbst gab es leider einen Rückschlag, als sich der höchst prominente Gast, der als Sänger der Titelrolle ausersehen war, Stephen Gould, aus gesundheitlichen Gründen von (nicht nur) dieser Rolle zurückziehen mußte; ein junger, mutiger Landsmann von ihm, der derzeit an der Oper am Rhein in Düsseldorf engagiert ist, war reichlich kurzfristig bereit, sich diese umfangreiche Rolle für Linz anzueignen. Auch in letzter Minute mussten noch Einspringer (allerdings als offizielle zweite Besetzung voll geprobt) aushelfen.
Dieser Darsteller des McTeague ist Corby Welch, der nicht nur körperlich die im Roman festgelegten Eigenschaften dieses Charakters erfüllt, sondern mit beweglichem, kraftvollen und schön timbrierten Tenor in dieser riesigen Rolle ohne hörbare Ermüdung von der ersten bis zur letzten Minute präsent ist. Und „präsent“ heißt, daß er auch schauspielerisch überzeugen konnte – einfach eine hervorragende Leistung!
Seine Ehefrau, Trina Sieppe, um die sich der Konflikt der Handlung dreht, wird von Çiğdem Soyarslan mit leuchtendem dramatischen Sopran verkörpert, auch sie nicht nur stimmlich, sondern auch als Bühnencharakter restlos überzeugend.
An sich war als Marcus Schouler Seho Chang für die Premiere eingeteilt; dieser mußte jedoch wegen Erkrankung w. o. geben, worauf Michael Wagner diese Aufgabe übernahm – auch er nicht völlig gesund (er ließ sich ansagen), jedoch konnte sein Bariton mit den anderen zwei Hauptpersonen absolut mithalten. Schauspielerisch ließ er natürlich ebenso keine Wünsche offen.
Die Maria Miranda Macapa von Karen Robertson ist ebenso brillant – eine Charakterkomikerin par excellence in Spiel und Stimmeinsatz.
Papa Sieppe wird liebevoll verschroben charakterisiert vom Landestheater-Veteranen William Mason, als seine Gattin mußte Kathryn Handsaker in letzter Minute für Cheryl Lichter einspringen. Sheriff Jacques le Roux und Lottery Agent & Health Inspector Nikolai Galkin boten ebenfalls sehr feine Leistungen. Ulf Bunde als New Dentist und der junge Lorenz Kothbauer als Owgooste, kleiner Bruder von Trina, ergänzten das Ensemble mit sehr guten Leistungen.
Der Chor des Landestheaters Linz, einstudiert von Georg Leopold, lieferte den Solisten in Spiel und Gesang die perfekte und zuverlässige Stütze. Auch das Bruckner Orchester spielte in Höchstform, was nicht zuletzt an den auf die Hundertstelsekunde präzisen Schlägen – schon der allererste Ton dieser Oper ist eine gewaltige Eruption der groß besetzten Schlagwerker – zu hören war.
Dennis Russell Davies dirigierte sein erstes von Michael Bolcom komponiertes Stück 1967 und konnte den Komponisten hier in Linz daher als alten Freund begrüßen. Man kann davon ausgehen, daß Bolcom auch mit dieser Interpretation seiner nicht immer einfach zu erfassenden Musik sehr zufrieden war: absolute Synchronisation zwischen Bühne und Graben, vorzüglich abgestimmte Dynamik (bei diesen hervorragenden Sängern ohne Kompromisse möglich), immer wieder fein gewebte Farbstimmungen, zwischendurch elegant swingende „Amerikanismen“.
Begeisterter Applaus für Darsteller und Musiker wie Produktionsteam, der erst durch das Saallicht beendet wurde.
Bilder (c) Patrick Pfeiffer
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