Eine Kooperation des Theaters Lübeck mit dem Theater Kiel
Besuchte Vorstellung: Premiere am 11. September 2021
Todestanz der Eitelkeit
Es ist schon ein kühnes Unterfangen, eine so komplexe und vielschichte Literaturvorlage wie Oscar Wildes „Das Bildnis des Dorian Gray“ in einer gut einstündigen Ballettadaption einfangen zu wollen. Der ukrainische Tänzer, Choreograph und Ballettdirektor Yaroslav Ivanenko hat gar nicht versucht, alle Figuren und Handlungseinheiten wiederzugeben, sondern sich auf das für ihn Wesentliche konzentriert. Herausgekommen ist eine ungemein dynamische Verdichtung des Stoffs in sieben Bildern auf Beziehungen, Wandlungen und starke Emotionen in einem Gesamtkunstwerk aus hochanspruchsvoller Choreographie, wunderbaren Kostümen, einem tänzerisch-beweglichem Bühnenbild und phantastischer Musik. Letzteres betrifft sowohl die Auswahl der kammermusikalisch wiedergegebenen Werke als auch das mitreißende Spiel der Musikerin und Musiker unter der Leitung von Daniel Carlberg. Dominiert wird das Programm durch vier Stücke von Dmitri Schostakowitsch, dann folgt Frédéric Chopin mit zwei Werken und zentral steht Musik von Ludivoco Einaudi, der vor allem als Komponist von Filmmusik bekannt ist. In großartiger Synchronizität tanzen die Mitwirkenden zu den Stücken und bilden so eine beeindruckende Einheit. Hervorragende tänzerische Leistungen bieten in der ganzen Produktion die Hauptrollen ebenso wie das Corps de Ballet und die sich daraus lösenden Paare und Solisten.
Bereits in den ersten beiden Bildern, in denen sich die Geschichte des mit magischem Talent begnadeten Malers und des durch sein Aussehen und seine Kultiviertheit aus der Masse herausstechenden Dorian Gray entwickelt, wird durch den Tanz des Protagonisten Christopher Carduck und des Künstlers Jean Marc Cordero deutlich, daß es in dieser Inszenierung vor allem um Macht, Instrumentalisierung und Beeinflussung geht. Der Maler formt die Haltungen von Hanna Sofo als sein Modell nur durch Winke. Seine Skizzen sind dabei durch ebenso diskrete wie wirkungsvolle Projektionen auf gerahmten Leinwänden wiedergegeben, die sich immer wieder mal auf die Bühne oberhalb der getanzten Handlung senken und dann wieder in den Schnürboden verschwinden. Dorian Gray ruft in ihm allerdings den Willen hervor, über sein bisheriges Schaffen hinauszugehen. Der dämonische Lord Henry Votton, dargestellt von Amilcar Moret Gonzalez, offenbart in seiner finsteren Erscheinung und seinen überzeugenden diabolisch beschwörenden Gesten seinen mephistophelischen Charakter – vor allem er ist es, der durch seine Verführungskünste Macht ausübt und den jungen Dorian dazu bringt, alle Begriffe von Moral und Altruismus fallenzulassen.
Der ist fortan narzißtisch besessen von seiner unsterblichen Jugend, die ihm verliehen wurde, und baut eine krankhafte Beziehung zu dem Gemälde auf, das an seiner Statt altert. Krankhaft wird schnell auch sein Verhältnis mit der Schauspielerin Sibyl Vane, denn er verliebt sich in ihre Rollen, nicht in den Menschen, der dahintersteht. Ihr Nachname ist ein sprechendes Vanitassymbol. Keito Yamamoto, die tänzerisch etwas mehr aus sich hätte herausgehen dürfen, macht innerhalb eines Bildes den Abstieg der bejubelten Künstlerin erlebbar, denn durch die Beziehung zu Dorian hat sie ihr Talent eingebüßt und stirbt schließlich daran. Auch der Wandel ihres Miteinander von echter Innigkeit zur völligen Entfremdung wird dramaturgisch gestrafft, aber erhält dadurch eine dichte Intensität. Alle Veränderungen und inneren Wandlungen werden durch ein lebhaft-bewegtes Bühnenbild verstärkt; die Kulissenschieber gehören zum Ensemble und so tanzt die ganze Bühne mit allen Requisiten, Wänden, Spiegeln und Bildern gleichsam mit.
Zugegeben – man durfte gespannt sein, wie Einaudis Musik mit der von Schostakowitsch und Chopin reagieren würde, denn viele seiner Stücke schrammen hart an der Beliebigkeit von Fahrstuhlmusik vorbei und werden dennoch in immer mehr Radiosendern inflationär aufgelegt. Aber seine „Experience“ in der Version für Klaviersolo und Klavierquartett unterstrich großartig die inneren Kämpfe und die handfesten Konflikte der Akteure.
In der Handlungsentwicklung steigern sich die Tänzer immer mehr in eine rauschhafte Agonie, die Schostakowitschs 4. Satz aus seinem 2. Klaviertrio in seiner unbarmherzigen Dynamik und verzweifelten Aufgewühltheit zu einem großen Danse Macabre macht. Dorian Grays Portrait verfällt nicht mit aufgesetztem Gruselfaktor, sondern erhält eher einen Verlust des Persönlichen durch eine Verwischung seiner Gesichtszüge, wie sie Francis Bacon in seinen Bildern eingesetzt hat. Heiko Mönnichs Ausstattung ist zwar reduktiv, aber in jedem Detail gekonnt und sicher ausgearbeitet.
Die dritte und letzte Wandlung des Bildnisses nach Dorians Zusammenbruch unter der Last seines Gewissens – auch den Maler hat er schließlich ermordet – zeigt bereits das Zerrbild einer Todesfratze. Er zerstört mit dem Dolch, an dem noch das Blut seines Schöpfers klebt, das Gemälde, beendet damit die grausige Geschichte und sein Leben. Hinter der zerrissenen Leinwand steht wie ein stiller Triumphator der dunkle Lord.
Langanhaltender, begeisterter Applaus für eine mitreißende Produktion.
Dr. Andreas Ströbl, 12. September 2021
Photos: Olaf Struck