Besuchte Vorstellung: UA-Premiere am 6. März 2020
„Die Flamme schmilzt das Elend ein“
Ganz ohne Zweifel ist die Kino-Oper „L´Europénne“ das richtige Stück zum richtigen Zeitpunkt. In der Uraufführung am 6. März im experimentierfreudigen Theater Lübeck erlebte ein begeistertes Publikum den ersten Teil des Doppelpaßprojektes „I like Africa and Africa likes me – I like Europe and Europe likes me“. Die Macher dieser Collage aus Oper und Filmsequenzen gehören zu einem afrikanisch-europäischen Künstler-Kollektiv um Daniel Angermayr, Thomas Goerge, Richard van Schoor, Abdoul Kader Traoré und Lionel Poutiaire Somé; das Ganze ist ein Gemeinschaftsprojekt der Oper Halle und des Musiktheaters Lübeck.
Der Titel ist sinnfällig gewählt und der Opernkenner assoziiert sofort Giacomo Meyerbeers Oper „L´Africaine“, die das Team am 3. April in Lübeck aufführen wird. So wird also zuerst von Afrika aus nach Europa geblickt und folglich beschreibt der Begriff des Perspektivwechsels den Charakter der Produktion wohl am treffendsten.
Das Packende dieses Werks liegt in der Verbindung von Sozialkritik mit traditionellen Elementen des Musiktheaters. Das erinnert an den Brecht´schen Ansatz. Kommt noch eine Liebesgeschichte hinzu, sind wir bei Wagner. Hochinteressant ist hier, daß gerade das Vertraute den Zugang zu der Produktion erleichtert, gleichsam als umgekehrter Verfremdungseffekt. Vertrautes wird fremd und umgedreht.
Doch worum geht es eigentlich in „L´Européenne“? Erster Schauplatz ist eine dieser riesigen Mülldeponien irgendwo am Rande einer afrikanischen Großstadt.
Dort klauben die Menschen, darunter viele Kinder, den Elektroschrott auseinander, den ihnen Europa überlassen hat, gleichsam die Müll-Brosamen, die von der Herren Tisch im reichen Norden abgekippt werden. Aber es gibt dort findige Menschen, die mehr als die Rohstoffe sammeln. Bouba ist einer von ihnen; er sucht nach Daten auf den weggeworfenen Festplatten, die er als „Hacker“ nutzt, um an das große Geld derer zu kommen, deren Urgroßväter Afrika zu einem Kontinent gemacht haben, den man am liebsten verlassen will. Wenn man es kann. Auf der Deponie arbeitet die Europäerin Lena, die einer nichtstaatlichen Hilfsorganisation angehört und verzweifelt immer neue Proben des verseuchten Bodens nimmt. Lena steht für die Hilflosigkeit all derjenigen Europäer, die etwas tun wollen, aber letztlich an den Verhältnissen scheitern. Die beiden verlieben sich ineinander, aber Lena muß wieder in ihre Heimat und läßt Bouba zurück.
Er will nicht ohne sie leben und folgt ihr auf einer dieser mörderischen Flüchtlingsrouten über das Mittelmeer, das mittlerweile zu einem riesigen Seefriedhof geworden ist, in das gelobte Land, „wo man im Fette schwimmt“. Zuvor befragt er gemäß der Tradition seines Stammes den „Fètischeur“, einen Schamanen, ob er die gefährliche Reise antreten soll. Die zu Rate gezogenen Totemtiere Hyäne und Hase befinden sich im Widerstreit, der seine innere Situation spiegelt.
Bouba findet Lena, aber ihre Liebe hat keine Zukunft, denn der Afrikaner hat keine Aufenthaltsgenehmigung. Zudem ist Lena psychisch krank, was in einen Suizid durch Tabletten mündet. Schnell wird der Immigrant mit ihrem Tod in Verbindung gebracht und verurteilt. Es ist ja so leicht, nach der Tagesschau, bei der man sich ehrlich betroffen gefühlt hat, weil schon wieder überfüllte Boote mit Afrikanern im Mittelmeer gekentert sind und berichtet wird, daß alle ertrunken sind, innerlich ab- und umzuschalten und sich dem „Tatort“ hinzugeben. Aber im „Tatort“ geht es um das gleiche Thema und bei Anne Will anschließend auch. So war es am Freitagabend im anheimelnden Lübecker Jugendstil-Theater – vorne geschahen Dramen und denen konnte man sich nicht mal während der Pause bei Sekt und Brezeln entziehen, denn eine Pause gab es nicht. Die Filmszenen zeigten, die Handlung begleitend und unterstreichend, entweder die Arbeit der Afrikaner im Müll, Ritualtänze oder bestanden am Ende aus Sequenzen aus dem Kurzfilm „Die falsche Seite“ des burkinischen Regisseurs Lionel Poutiaire Somé. Der Clou des Ganzen ist aber einerseits Thomas Goerges Sprache, die dem Opernliebhaber aus Libretti des 19. Jahrhunderts vertraut ist und so eine ironische Brechung in das Werk bringt. Das Libretto ist angereichert mit zeitgenössischen Begriffen, Ausschnitten aus Medienmeldungen und Twitter-Nachrichten, dann wieder erscheinen Beethoven-, Mahler- und Heine-Zitate. Andererseits ist es die fast durchweg tonal gehaltene Musik des südafrikanischen Komponisten Richard van Schoor, deren manchmal jazzige Rhythmen an Kurt Weill denken lassen. Es ist aber die Mischung aus dieser ungemein farbig schillernden Klangwelt mit sehr starkem Philharmonischem Orchester der Hansestadt Lübeck unter der Leitung von Andreas Wolf und dem präzise singenden Chor unter Jan-Michael Krüger mit Passagen wie „Welcome to Toxic City“, die dem Zuhörer das Gefühl vermittelte, wie es wohl gewesen sein könnte, eine Uraufführung in den 20er Jahren am Berliner Schiffbauerdamm mitzuerleben. Die Musik ist jedoch alles andere als eklektizistisch; Tierlaute, Trommeln und der Lärm der Schrottsammler verleihen den postmodernen Klängen entsprechendes Lokalkolorit. Fast ist die Musik zu schön angesichts all des Elends, das von der Flamme des brennenden Mülls eingeschmolzen wird.
Der Tenor Owen Metsileng gab einen leidenschaftlichen Bouba und Emma McNairy sang und spielte mit großer Überzeugung die engagierte Lena. Das Drama war eigentlich schlimm genug und es hätte nicht noch eine seelische Erkrankung dieser Protagonistin gebraucht. Die führte aber handlungsfunktional zu einem Verdi-haften Selbstmord. Es waren diese vielen Zitate, die auch den eher traditionell ausgerichteten Opernliebhaber immer wieder packten wie die Anrufung des Schamanen („Fétischeur! Erscheine!“), bei der man im Schnürboden sowohl Samiel als auch Loge im Geiste die Ohren spitzen sah. Es erschien als Zauberer Youngkug Jin mit mächtiger Baßstimme, seiner Macht bewußt. Daß diese Schamanen übrigens ein völlig selbstverständlicher Teil des täglichen Lebens in vielen afrikanischen Ethnien sind, verriet Lionel Poutiaire Somé in der „Kostprobe“. Dies ist eine mittlerweile bewährte und immer stärker wahrgenommene Tradition in Lübeck, bei der ein bis zwei Wochen vor der Premiere kostenlos in die Inszenierung eingeführt wird; danach kann man an der Probe einer Szene teilhaben. Er selbst hatte den Familien-Féticheur nach dem Gelingen seiner Inszenierung befragt. Das Textverständnis des deutschen Librettos war bei allen Mitwirkenden, unter denen sich kaum ein Muttersprachler befand, ausgesprochen gut, was die Inszenierung auch brauchte. Musik, Gesang, ein ausgesprochen lebhaftes Bühnengeschehen und die Videos nahmen ohnehin alle Sinne ohne Unterlaß in Anspruch.
Die wurden gefordert, um sich vom bequemen Eurozentrismus zu verabschieden und die Welt mal mit den Augen der postkolonialen Afrikaner zu sehen. „Hic sunt Dracones“ ist eine Formel auf dem Hunt-Lenox-Globus von 1504 (entsprechend dem „Hic sunt leones“ bei den Römern), mit der die Welt jenseits der bekannten Grenzen markiert wurde. Drachen und Seeungeheuer erwartete man im Unbekannten und hier wird die Formel auf Europa angewandt. Bei uns leben also die Monstren, die zu fürchten sind. Diese Ungeheuer sperren die Flüchtlinge, kaum daß sie sie aus dem Wasser gefischt wurden, wie gefährliche Tiere in Lager, wo sie wie Ketzer als Randglieder der Gesellschaft vegetieren. Das illustrieren die Goya´schen Papp-Figuren mit der Carocha, dem spitzen Ketzerhut, und dem Sanbenito, dem Büßergewand der spanischen Inquisition. Daß der Traum vom Europa, in dem Milch und Honig fließen, zum Alptraum wird, enthüllt die englische Sentenz auf den Rückseiten der Ketzerfiguren. In diesem Alptraum marschieren schließlich die Monster, die zum Töten bereit sind, in einer Videosequenz von 2018 durch die Chemnitzer Innenstadt.
Die Totemhyäne (ebenfalls Youngkug Jin) hatte das vorausgesehen, während Caroline Nkwe als Hase zur Reise geraten hatte. Sie, stimmlich ebenfalls sehr präsent, war im schicken Europa der Anzug- und Robenträger zur Richterin mutiert. Das Vertraute ist so für Bouba zum Fremden geworden. Endstation für ihn und zahllose andere, ohne Hoffnung. Das Motto aus Dantes Höllentor im letzten Bild ließ keinen Zweifel daran. Durch begeisterten Applaus zeigte das Lübecker Publikum, daß die Botschaft angekommen war. Ein besonders schöner Einfall von Andreas Wolf war, das gesamte Orchester für den Beifall auf die Bühne zu holen. Nach dieser Vorstellung dürfte auch der Letzte begriffen haben, weswegen all diese Menschen nach Europa strömen. Wer es immer noch verstanden hat, sollte sich „L´Europénne“ in Lübeck ansehen.
Bilder (c) Olaf Malzahn
Andreas Ströbl, 9.3.2020