Mannheim: „Die Bassariden“

Besuchte Aufführung: 18.11.2015 , Premiere am 23.10.2015

Der Kampf der Alter Egos

Zu einer mitreißenden Angelegenheit geriet die Neuproduktion von Henzes Oper „Die Bassariden“ am Nationaltheater Mannheim. Hier haben wir es mit einer echten, absolut sehenswerten Rarität zu tun, die bei dem zahlreich erschienenen Publikum zu Recht auf große Zustimmung stieß. Gespielt wurde die revidierte Fassung aus dem Jahr 1992 in englischer Sprache ohne das Intermezzo „Das Urteil der Kalliope“.

Beroe, Karsten Mewes (Pentheus), Dionysos

Es handelt sich bei den auf die „Bakchen“ des Euripides zurückgehenden „Bassariden“ um ein imposantes Werk, das im Repertoirebetrieb der Opernhäuser leider ein Schattendasein führt. Seit der Uraufführung bei den Salzburger Festspielen 1966 hat es nicht allzu viele Produktionen gegeben. Umso erfreulicher ist es, dass sich das Nationaltheater Mannheim jetzt auf diese äußerst reizvolle Oper besonnen und sie auf den Spielplan gesetzt hat. Das Ganze ist gleichsam wie eine viersätzige (Brahms-) Symphonie aufgebaut, in der sich eine großartige Musik den Weg bahnt. Der rhythmisch-prägnanten Welt des Pentheus korrespondieren die verführerisch lyrischen Klänge des Dionysos. Beide Charaktere werden durch Zwölftonreihen charakterisiert. Bei der Dodekaphonie ist auch der Einfluss ihres Schöpfers Schönberg zu erkennen. Auch Wagner, Strauss, Mahler und Strawinsky haben zu Henzes Musik offenbar Pate gestanden. Seine Klangsprache ist teilweise sehr bombastischer und schwelgerischer Natur, weist aber auch herrliche Bögen und Lyrismen auf, die sich tief einprägen. Wenn gegen Ende Pentheus bei „I looked into eyes that were my own“ auch musikalisch unvermittelt die Dionysos-Sphäre betritt, ist das einer der eindringlichsten Momente des gesamten Werkes.

Dionysos

Am Pult tauchte Rossen Gergov tief in Henzes vielschichtige Musik ein. Seine Ausdeutung der Partitur zeichnete sich durch Leidenschaft und Temperament aus. Der Klangteppich, den er und das bestens disponierte Orchester des Nationaltheaters Mannheim mit sicherer Hand erzeugten, war grandios. Da wurde energiegeladen, temperament- und schwungvoll sowie sehr energisch musiziert. Die Spannungskurve wurde von Anfang bis Ende perfekt durchgehalten. Dabei vermieden es Dirigent und Instrumentalisten tunlich, in ein irgendwie geartetes falsches Pathos zu verfallen, gaben dem Ganzen aber einen sehr inbrünstigen Charakter. Die markanten Töne der Pentheus- und die zarten Töne der Dionysos-Welt wurden einfühlsam gegenübergestellt. Schöne Differenzierungen und Nuancen sowie eine breite Farbpalette taten ein Übriges, das Publikum in einen regelrechten musikalischen Rausch zu versetzen, der sich am Ende dann in großem Beifall entlud. Das war seitens Gergov eine ganz große Leistung. Bravo!

Karsten Mewes (Pentheus), Beroe

Ein Lob gebührt auch Frank Hilbrich, dem eine opulente, bildgewaltige und trefflich durchdachte Inszenierung zu bescheinigen ist. Das Bühnenbild von Volker Thiele ist zweigeteilt. Die Bibliothek, die den unteren Teil des Raumes bildet, ist schon lange ein von Hilbrich favorisierter Spielort. In einer solchen siedelte er bereits seine Freiburger Produktionen der „Götterdämmerung“ und des „Lohengrin“ an. Nun also auch die Mannheimer „Bassariden“. Die Bücherei, deren Regale bei dem Erdbeben in sich zusammenstürzen, steht für die rationale Welt des Pentheus, in der sich zu Beginn der von Gabriele Rupprecht bunt-modern eingekleidete Chor versammelt. Hier haben wir es mit einer Gesellschaft mit fest fundiertem Untergrund zu tun, die indes etwas ratlos und erstarrt wirkt. Es ist deshalb nicht weiter verwunderlich, dass Dionysos mit dieser festgefahrenen Gemeinschaft leichtes Spiel hat – sein aus dem Off tönender Ruf ist ihr willkommen – und sie problemlos in seine Sphäre zu locken vermag. Diese bildet ein oberhalb der Bibliothek liegender dunkler Raum, der an die Stelle des in dieser Inszenierung unsichtbar bleibenden Berges Kytheron tritt. Und hier bringt Hilbrich gekonnt die Psychologie mit ins Spiel. Während die thebanische Pentheus-Welt für das Bewusste steht, versinnbildlicht die andere das Unbewusste, in der im Lauf des Abends von den Dionysos-Anhängern in Unterwäsche eine eher harmlos anmutende Orgie gefeiert wird. Die Bilder hier sind nicht realer Natur. Vielmehr werden mit Hilfe einer Live-Video-Kamera aufgenommene visuelle Impressionen auf den Gaze-Vorhang des gänzlich schwarzen Raum projiziert. Diese die Grenze zur Surrealität streifenden irrealen Momentaufnahmen sind als Reise in das Innere des Menschen zu verstehen – ein überzeugender Einfall, der von Hilbrichs psychologischen Kenntnissen zeugt.

Karsten Mewes (Pentheus), Dionysos

Diese offenbaren sich auch in dem Verhältnis von Pentheus zu Dionysos. Die beiden Männer werden vom Regisseur als Alter-Egos gezeigt, die sich bekriegen. Der Verstandesmensch Pentheus trägt einen schwarzen, der sinnliche Dionysos einen weißen Gehrock und beide eine identische Perücke. Sie sind wie Zwillinge, gleichsam zwei Seiten einer einzigen Person. Der tiefere Sinn dieser famosen Idee Hilbrichs besteht darin, aufzuzeigen, dass Verstand nicht ohne das Sinnliche und das Sinnliche nicht ohne den Verstand auskommt. Beide Wesensmerkmale müssen innerhalb einer Person zu einem Ausgleich gebracht werden. Insbesondere Pentheus muss lernen, das Sinnliche in sich zuzulassen. Da er dazu nicht fähig ist, muss er schließlich an sich selbst scheitern. Das ausgefeilte Zusammenspiel zwischen den beiden Kontrahenten hat Hilbrich mit größter Eindringlichkeit inszeniert – ein Meisterstück in Sachen wohl dosierter psychologischer Personenregie, die den Höhepunkt der Aufführung bildete. Hier haben wir es mit einem ausgemachten Kampf von Pentheus gegen sich selbst zu tun. Am Ende werden seine auseinandergerissenen sterblichen Überreste von Chor und Solisten in weißen Plastiktüten auf die Bühne gebracht. Dabei ist es nur natürlich, dass sie sich als Zeichen ihrer Mitschuld blutige Hände holen, als sie in die Plastiktaschen greifen- ein starkes Bild, genauso imposant wie die ganze hoch gelungene, innovative Inszenierung. Am Ende verfällt die Sohnesmörderin Agaue dem Wahnsinn und das Volk erstarrt in derselben Haltung wie zu Beginn. Deutlich wird, dass für die Masse der kollektive Ausflug in das Unterbewusstsein nichts gebracht hat. Die Situation für sie ist die gleiche geblieben wie am Anfang. Sie tritt weiterhin auf der Stelle. Dass Dionysos jetzt die Herrschaft übernimmt, ändert daran nichts. Es bleibt alles beim Alten.

Agaue, Chor des Nationaltheaters Mannheim

Durchwachsen zeigten sich die gesanglichen Leistungen. Rollendebütant Andreas Hermann war ein darstellerisch überzeugender Dionysos. Gesanglich konnte er indes mit seinem nicht sonderlich gut fokussierten, flachen Tenor nicht in gleicher Weise überzeugen. Karsten Mewes brauchte als Pentheus etwas Zeit, um stimmlich warm zu werden. Beim hohen ‚f’ der Stelle „on Semeles tomb“ gab es eine kleine stimmliche Unebenheit. Dann bekam er seinen hellen, kräftigen Heldenbariton aber schnell in den Griff und wartete mit einer insgesamt grundsoliden Leistung auf. Elegant in Erscheinung und Spiel, stimmlich voll und rund präsentierte sich die Agaue von Julia Faylenbogen. In jeder Beziehung ordentlich schnitt Vera-Lotte Böcker s Autonoe ab. Einen ausdrucksstarken, emotional angehauchten Mezzosopran brachte Marie-Belle Sandis für die Beroe mit. Mit imposanter Statur und einer profunden, volltönenden Bassstimme verlieh Sebastian Pilgrim dem Kadmos enormes schauspielerisches und vokales Gewicht. Thomas Berau war ein geradlinig singender Hauptmann der Wache. Nur über dünnes Tenormaterial verfügte Raphael Wittmer in der Partie des Teiresias. In großer Form zeigte sich der von Nils Schweckendiek bestens einstudierte Chor.

Fazit: Ein in erster Linie musikalisch und szenisch hoch gelungener Abend, der die Fahrt nach Mannheim voll gelohnt hat.

Ludwig Steinbach, 20.11.2015

Die Bilder stammen von Hans Jörg Michel