13.11.2021 (Premiere am 2.10.2021)
Eine an Herz und Nieren gehende Parabel des Untergangs
Nach fünfzehnjähriger Abwesenheit von der Komischen Oper Berlin hat Hausherr Barrie Kosky Kurt Weills Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny unter der musikalischen Leitung des 1978 in Riga geborenen lettischen Generalmusikdirektors Ainārs Rubiķis neu inszeniert. In der heutigen Gesellschaft, die geprägt ist von Vergnügungssucht und Drogen jeder Art, wo nur die Reichen und Schönen die Klatschspalten einer skandalgierigen Presse füllen, wirkt Weills prophetische Endzeitspiel wie eine Apokalypse menschlicher Begierden. Die Bühnenbildner Klaus Grünberg und Anne Kuhn schufen mit Unterstützung von Kostümbildner Klaus Bruns eine schmucklose Mahagonny Welt, welche die individuellen menschlichen Situationen der Protagonisten wie mit dem Skalpell offenlegt. Die Handlung dreht sich um die Gründung einer utopischen Stadt, in der das Glück für alle Begüterten vorhanden ist, weswegen diese unabdingbare Voraussetzung auch zu ihrem Untergang führt.
Und das alles zart verpackt und wohlig eingebettet in die Weill’schen Evergreens „Denn wie man sich bettet, so liegt man“, „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“ und „The Moon of Alabama“. Fortan spielt Religion keine Rolle mehr. Die drei flüchtigen Gauner Da besiegeln die flüchtigen Gauner Dreieinigkeitsmoses (Jens Larsen ein Hüne mit gewaltigem Bass) und Fatty, der „Prokurist“ (bigott und schmierig: Ivan Turšić) als Rabbiner und Pfarrer verkleidet, mitten in der Wüste ihr utopisches Modell der Stadt Mahagonny, die jegliche Art von Glücksrittern um ihr wohlverdientes Geld bringen soll. Bei diesem Vorhaben werden sie von abgefeimten Witwe Leokadja Begbick (herrlich trashig mit schrillem Mezzo: Nadine Weissmann) angespornt. Diese greift dem Pfarrer gleich völlig ungeniert in seinen Schritt und wirft die Gebetsbücher in einen Müllkübel, worauf sie dem Rabbi die Bejkeles (Schläfenlocken) abschneidet. In Zukunft soll nur mehr das Geld wie ein Fetisch angebetet werden. Bühnenbildner Klaus Grünberg hält sich an Brechts Vorgaben, indem auf der Bühne nur die notwendigsten Requisiten zu sehen sind.
Zwei hohe mit netzartigen Vorhängen bedeckte Wände schließen die schwarze Spielfläche seitlich ab, wodurch der Eindruck eines klaustrophobischen Raumes entsteht. In diesen Fangnetzen werden sich die Besucher der Stadt aber noch haltlos verstricken. Nach sieben harten Jahren in Alaska suchen Jim Mahoney (stämmig mit volltönender „Röhre“: Allan Clayton) und seine Holzfällerfreunde, ebenso wie die Prostituierte Jenny Hill (zart und zerbrechlich: Nadja Mchantaf) und ihre Mädchen, ihr Glück in Mahagonny. Witwe Begbick verkauft Schnaps aus Wasserspendern und sammelt den Erlös in großen Metallkübeln, während Jenny ihren Rock auf der Suche nach dem meistbietenden Kunden hebt. Jim ist der strengen monotonen Regeln der Begbick überdrüssig geworden und schießt angesichts einer drohenden Sturmkatastrophe in die Menge. Zur Belustigung der Masse uriniert er dann noch auf den am Flügel sitzenden Pianisten und schneidet die Vorhänge der Wände ab. Im zweiten Teil der Oper fallen alle Vorhänge, wodurch sich der Raum mittels zweier Spiegelwände ins Unendliche erweitert und die Menschen sich zu einer bedrohlichen Masse vervielfältigen. Es herrscht Anarchie. Waren die Menschen bislang in Alltagskleidung zu sehen, treten sie nunmehr unisono in glitzernden Pailettenuniformen auf. Lediglich Jim unterwirft sich nicht diesem Diktat und behält seine Holzfällerkleidung an.
Diese hemmungslose Spaßdiktatur fordert aber auch ihre Opfer. Zunächst verendet Jack O’Brien (drastisch: Philipp Kapeller), der sich maßlos überfressen hat, in den Eingeweiden eines Widders. Dreifaltigkeitsmoses erschlägt Joe im Boxkampf und Jim, der sein Geld auf Joe gesetzt hatte, wird wegen Zechprellerei zunächst brutal geblendet und schließlich zum Tode verurteilt und vom aufgebrachten Mob der Reihe nach erstochen. Unwillkürlich denkt man dabei an den Film „Tod im Orientexpress“. Bei Hausherrn Barrie Kosky tritt nun Gott höchstpersönlich als Deus ex machina in einer seiner unendlichen Erscheinungsformen in Mahagonny auf. Dieses Mal als Äffchen in einem fernbetriebenen Go-Kart. Auf dem Sonnendach kann man in hebräischer Schrift das Siegel der Wahrheit, „Ämät“ (Wahrheit), lesen. Als dann der erste Buchstabe „Aleph“ herabfällt wird daraus das hebräische Wort „Mät“ (Tod), was bedeuten soll, dass der Golem in Gestalt von Mahagonny „vernichtet“ ist. Mit diesem inszenatorischen Trick erspart sich Barrie Kosky das ursprüngliche Finale mit der Stadt in Flammen und der „Feindschaft aller gegen alle“. Über bleibt die Musik. Der in einem regelrechten Ritual getötete Jim Mahoney liegt nun allein auf der Bühne, während der unsichtbar bleibende Chor dazu voller Ironie „Können einem toten Mann nicht helfen“ singt, obwohl seine Mitglieder gerade eben erst einträchtig den Außenseiter Jim Mahoney umgebracht haben.
Dieses verlogene Bedauern wird vom Orchester mit Pauken und Trompeten, vom Stil her an Siegfrieds Trauermarsch erinnernd, begleitet. So endet in der Komischen Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ und das Publikum sieht wieder einmal betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen (Brecht, Der gute Mensch von Sezuan)! Ainārs Rubiķis führt das Orchester der Komischen Oper mitreißend durch Weills genialen musikalischen Stilmix aus Passionsmusik, Chorälen, Jazz, Avantgarde und Evergreens. Der von David Cavelius geleitete Chor der Komischen Oper erweist sich dabei als große Stütze dieser Aufführung und begeistert vor allem in den Choralpassagen. Zu erwähnen sei an dieser Stelle noch, dass sich Brechts mehrfach gesungene Lebensweisheit „Wie man sich bettet, so liegt man, und keiner deckt einen zu“ schon in der ältesten niederdeutschen Sprichwörtersammlung (1515) von Antonius Tunnicius enthalten ist. Die übrigen Freunde von Jim Mahoney sangen und spielten engagiert und gaben ihren Rollen ein eigenständiges Profil. So Tom Eric Lie in der Rolle von Bill, genannt Sparbüchsenbill, Tijl Faveyts als Joe, genannt Alaskawolfjoe und Adrian Kramer als Tobby Higgins.
Frenetischer Applaus eines glücklichen und höchst zufriedenen Publikums bedankte schließlich alle Mitwirkenden. Und völlig zu Recht gab es Bravorufe für Nadja Mchantaf und Allan Clayton, in die der Rezent freudig einstimmte. Bravi!
Harald Lacina, 14.11.2021