Premiere: 26.1.2018. Besuchte Vorstellung: 4.3.2018
Es fällt auf: Zwischen dem Durchschnittsalter der Besucher und dem der beiden Titelhelden besteht eine unübersehbare Diskrepanz. Nur die wenigsten Zuschauer kommen in die Nähe der Jugend, über die Romeo und Julia nun schon seit mehreren Jahrhunderten verfügen.
Denn „it works“, wie man in England, wo der Mythos zu seinem Höhepunkt kam, sagen würde. Die Großväter- und -müttergeneration delektiert sich mit guten Gründen an der Ballettproduktion der Choreographin Barbara Buser und ihrer Compagnie. Kanako Ishiko und Lukas Corrêa, Julia und Romeo, so heißen die beiden Stars, die am Himmel der Liebe grandios aufleuchten, bevor sich in der Nacht der Gruft erlöschen.
Doch beginnt der Abend nicht mit den Beiden; die Frau in Rot, die sich da am Anfang in Schmerzen windet, ist nicht, wie der Zuschauer vermuten könnte, die junge Dame, sondern ihre beste Freundin, vulgo: die Amme. Barbara Buser lässt das Spiel nicht mit dem Getändel auf der morgendlichen Straße in einem hübschen Verona, sondern in einem finsteren Raum beginnen: die Katastrophe ist schon passiert. Später werden wir den Beginn dieser Szene noch einmal sehen und begreifen: es ist die Freundin, die davon ausgehen muss, dass ihre beste Freundin gerade gestorben ist. Und so beginnt der Abend bereits im leitmotivischen Tragödienton des „Befehls der Herzogs“, der zu Beginn des 4. Akts die letzte Richtung angeben wird.
Derart erweist sich die Freiheit, die sich die Choreographin zusammen mit dem Dirigenten Daniel Spaw, der die Hofer Symphoniker deliziös durch den Abend leitet, gegenüber der um etwa 20 Minuten gekürzten Vorlage Sergej Prokofiews nehmen durfte. Busers Interpretation ist durchaus eigenständig. Hier sind es nicht die verfeindeten Gruppen, die die Katastrophe auslösen, sondern zwei Individuen. Duncan W. Sauls Mercutio und Ali San Uzers Tybalt, dies sind die Streithähne, die das an sich freundliche Miteinander der blauen und roten Clans tangieren, die sich in der Trauer über die beiden Ermordeten doch einig zu sein scheinen. Und wenn Mercutio und ein Kumpel zusammen mit der Amme, wunderbar intensiv getanzt von Elisa Insalata, bei der Briefübergabe einen komischen Pas de trois hinlegen, ahnt man, wie die Geschichte auch ausgehen könnte. Verkehrte Welt…
Und wie tanzt man nun in diesem Nachtstück, das im Raum Annette Mahlendorfs nur gelegentlich von hellen Zonen aufgelichtet wird? Man tanzt elegant, man berührt sich, küsst sich gar, man tanzt auf Spitze und pantomimisch, man tanzt in einem lockeren Sinne modern und weiß sich doch der Tradition des russischen Balletts verpflichtet. Buser entwirft immer wieder die Gruppenbilder einer klassischen, auch dekorativen Compagnie und arbeitet das Individuelle der Solisten liebevoll heraus. Kanako Ishikos Julia ist ausgesprochen jugendlich, ja naiv, ihr Romeo Lukas Corrêa scheint ein wenig reifer, und dies nicht nur, weil er seine Geliebte in der, wie gesagt, elegant durchchoreographierten Balkonszene – dem lyrischen Höhepunkt der Partitur – vom Boden bis in die Höhe transferieren muss. Im Übrigen geht Zärtlichkeit, tiefe tiefe Zärtlichkeit, über die nötige und bewiesene Sportivität. Der Rest ist nicht Schweigen. Der Rest sind rote Blätter, die auf die beiden toten Liebenden herabfallen.
Und starker Beifall.
Frank Piontek, 5.3.2018
Fotos: ©H. Dietz Fotografie Hof (die Fotos zeigen nicht die erwähnten Tänzer).