Die Grabinschrift nennt ihn den „größten Erneuerer der Musik“. War das nicht übertrieben? Also ein Zeichen jener typischen Hybris, wie sie Grabinschriften der Zeit eben auszuzeichnen pflegen?
Man kann‘s nicht sagen – denn Alessandro Scarlatti war durchaus eine Blüte seines Zeitalters, ja: dass wir heute von so etwas wie „Barockmusik“ sprechen (was angesichts der verschiedenen Stile des 17. und 18. Jahrhunderts ein seltsam unscharfer Begriff ist): daran ist auch der Mann aus Sizilien schuld, der in Rom und Neapel Karriere machte. Die Opernfreunde kannten bis vor einigen Jahren, wenn sie sich für etwas so Exotisches wie die römische und neapolitanische Oper des frühen 18. Jahrhunderts interessierten, kaum mehr als seine „Griselda“. Inzwischen kann man wenigstens eine Handvoll seiner über 100 Opern hören – und einige seiner Kantaten, die seinerzeit halbszenisch aufgeführt worden sind. Das alles klingt farbig, emotional, tiefgründig und lebendig – vorausgesetzt, eine Meisterin wie Dorothee Oberlinger steht am Pult, um ihr Ensemble 1700 zu leiten uns selbst als Flötistin aufzutreten.
Man muss den Komponisten sicher nicht als „barocken Influenzer“ titulieren, auch wenn man der musikhistorischen Wahrheit damit nahekommt. Das neue Album bringt einige jener Werke zu Gehör, die es verständlich machen, wieso der Mann damals so ungemein populär war. Die CD versammelt also Einiges aus seinem konzertanten und vokalen Werk; Bruno de Sá darf mit seinem butterweichen, auf den Legato Bögen souverän sich aussingenden Sopran nach der Sinfonia zum Stück zwei Arien und ein Rezitativ aus der Kantate „Il Giardino d‘Amore“ zum allerbesten geben, während Dorothee Oberlingers Flautino die pastorale Szene mit Vogelklängen sinnreich – und textbezogen – belebt. Helena Rasker, ein herrlich balsamisch dahinfließender Alt, ist die leidende Heldin aus der komplett aufgenommenen Cantata „Filen, mio caro bene“, in dem die notorisch leidende Kunstschäferin mit dem bukolischen Allerweltsnamen Phyllis sich um ihren Hirtenkollegen Phileno bemüht. Das geht in die Tiefe – so wie die harmonisch passende Sinfonia zur Serenata „Clori, Dorino e Amore“. Man hört: Händel und dessen römische Kantaten sind nicht weit, die Welt der Empfindsamkeit und der Schäferlyrik öffnet sich den kleinen Formen, die in der großen Oper zum Spektakel werden. Vorgesetzt: die Sinfonia zur Serenata (noch so eine Alternativform der Oper) „Venere e Amore“, die den Hörer sogleich durch ihre Energie gefangen nimmt – und ein im Todesjahr des Meisters, 1725, publiziertes a-Moll-Concerto, das Scarlatti, ebenso wie eine 1713 gedruckte g-Moll-Sinfonie, auch als Könner der reinen Instrumentalkunst ausweist.
Phyllis und Adonis, auch sie wären ein schönes Paar gewesen. Es genügte, dass sich das Ensemble 1700 ganz und ausschnittweise den Köstlichkeiten verschrieb: mit besonderer Berücksichtigung der Flötenparts, auch der Trompete, denn die Sinfonia zu „Venere e Amore“ ist ein immerhin vier Minuten 15 Sekunden langes Trompetenkonzert, das manch andere Oper, pardon: Cantata oder Serenata einleiten könnte. Mit einem Wort: Es macht einfach Spaß, dem alten, jung gebliebenen Scarlatti zu lauschen – wie gesagt: vorausgesetzt, dass Könnerinnen wie Dorothee Oberlinger und ihr Ensemble am Werk sind.
Frank Piontek, 20. Oktober 2023
Alessandro Scarlatti – Baroque Influencer
A. Scarlatti: Kantaten, Serenaten und Sinfonie
Ensemble 1700
Leitung: Dorothee Oberlinger
Bestellnummer: JB 007